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Interview

„Durch das Reisen kann ich neue Versionen von mir selbst ausprobieren.“

Jannik Voß in Amed, Bali; © Jannik Voß - Solopreneur Studio

Jannik Voß lebt und arbeitet als digitaler Solopreneur in verschiedenen Ländern der Erde. Im Interview erzählt er, was Solopreneurship bedeutet, warum kulturelle Identitäten überbewertet werden und wieso er sich für eine allgemeine Reisepflicht aussprechen würde. Außerdem verrät er, warum ein spiritueller Ansatz im Business hilfreich ist und ob er sich eine Rückkehr nach Deutschland vorstellen könnte.

Was war die Initialzündung für deine Entscheidung, Hamburg zu verlassen und nach Bali zu gehen? Warum hast du dich für Bali entschieden?

Jannik: Der Wunsch zu 100 Prozent ortsunabhängig zu arbeiten, hat sich bereits 2015 herausgebildet, als ich für 2 Semester auf Bali studierte. Ich habe mich schon nach einer Woche Hals über Kopf in die freundlichen Menschen und die herzliche Atmosphäre verliebt. Für mich war klar: so möchte ich leben.

Was hat dich an Bali so sehr fasziniert?

Jannik: Vor allem die Mentalität der Menschen. Bali ist vom Hinduismus geprägt und ich glaube, dass die verschiedenen Rituale dieser Religion sich positiv aufs Lebensgefühl auswirken. Die Locals sind bedingungslos freundlich und aufgeschlossen. Das ist einfach ein großer Kontrast zu Deutschland. Der Fokus liegt auf der Wertschätzung der kleinen Dinge.

Außerdem gefällt mir die Einfachheit des Lebens vor Ort. Hier herrscht viel weniger Bürokratie als in Europa. Man braucht nicht für alles Verträge, sondern regelt vieles per Handschlag. Das gilt beispielsweise für das Wohnen. Man kann hier problemlos für ein oder zwei Monate auf Probe in einer Mietwohnung leben – ganz ohne Kaution. Für meine Wohnung im Hamburger Stadtteil Winterhude musste ich einen Mietvertrag mit Mindestwohndauer unterschreiben und hatte extrem hohe Kautions- und Mietkosten. 

„Heimatgefühl kann überall aufkommen.“

INTERVIEW Jannik Voss Solopreneur Studio 2Wie hast du dann deinen Wunsch, den Bali-Lifestyle zu leben, in die Tat umgesetzt?

Jannik: Im ersten Schritt nutzte ich jede Gelegenheit, um neue Länder kennenzulernen – im Master-Studium ging es zum Beispiel für etwa zwei Auslandssemester nach Budapest. Und auch dort wurde mir klar: Heimatgefühl kann überall aufkommen. Diese Erfahrungen zeigten mir, dass ich einen Weg finden musste, selbstbestimmt zu arbeiten. Wo, wann und wie ich möchte.

Digital Solopreneurship war hier die ideale Lösung. Denn bei dieser Form des Unternehmertums stehen digitale Geschäftsmodelle, diversifizierte Einkommensströme und Remote Work im Fokus. Genau diese Dinge begeistern mich.

Was genau bedeutet Solopreneurship?

Jannik: In Deutschland ist dieses Konzept noch recht neu, in den USA aber schon sehr etabliert. Digitale Solopreneure kombinieren als Einzelunternehmer ihre Interessen und Fähigkeiten miteinander, um die 4.000 Wochen auf diesem Planeten so kreativ wie möglich zu verbringen. Zeitliche, örtliche und finanzielle Unabhängigkeit stehen hierbei im Fokus.

„Mit meiner Geburt in Deutschland habe ich bereits in der Lebenslotterie gewonnen.“

Der Unterschied zur Soloselbstständigkeit ist, dass Solopreneure ihr Unternehmen skalierbar gestalten. Ich bin nun schon seit sechs Jahren Solopreneur und habe damals als Freelancer angefangen. Bei der Zusammenarbeit mit meinen Klienten stellte ich schnell fest, dass ich nicht nur meine Dienstleistungen, sondern auch eigene Produkte verkaufen kann. 

Dazu muss ich sagen, dass ich bereits in der Lebenslotterie gewonnen habe. Ich bin unglaublich dankbar für meinen deutschen Reisepass und die hochwertige Ausbildung. Und trotzdem beobachte ich, dass es in Deutschland Gründerinnen und Gründern nicht gerade leichtgemacht wird. Wer in Deutschland gründen will, ist wegen der vielen bürokratischen Hürden erst einmal sehr abgeschreckt. Selbst Standardformulare vom Finanzamt können aufgrund ihrer Tonalität schon sehr einschüchternd sein. 

Wie hat dein Umfeld damals darauf reagiert, dass du Deutschland verlässt?

Jannik: Über Verwunderung, Traurigkeit bis hin zu Gewissheit war alles dabei. Meine Familie und der engste Freundeskreis wussten natürlich schon seit Jahren, dass mich der ortsunabhängige Lifestyle reizt. Da meine erste Station Tiflis in Georgien war, blickte ich aber auch häufig in verwirrte Gesichter – denn sowohl die Stadt als auch das Land haben nur die wenigsten auf dem Schirm.

Für Tiflis entschied ich mich damals, weil die Stadt bei Nomadlist unter den Top 10 Destinationen für digitale Nomaden gelistet war. Die Lebenshaltungskosten sind vergleichsweise niedrig und in puncto Digitalisierung ist Georgien sehr fortschrittlich. Es gibt dort viele Co-Working-Spaces, die Einheimischen sind sehr offen und die Einreisebedingungen niedrigschwellig.

Bevor ich mein Solopreneur Business gründete, hatte ich das „typische“ Arbeitsleben. Es ging an fünf aufeinanderfolgenden Tagen mindestens von neun bis fünf Uhr ins Büro. Irgendwann wurde mir klar, dass das nicht mein Ding ist. Weil unsere Zeit einfach die wichtigste Ressource im Leben ist – wir haben durchschnittlich 4.000 Wochen auf diesem Planeten. Dieser Perspektivwechsel hat mich fasziniert. 

Ich habe überhaupt kein Problem damit, hart zu arbeiten. Für mich stehen Selbstverwirklichung und Sinnhaftigkeit aber im Vordergrund. Ich finde, Privat- und Arbeitsleben müssen zwangsläufig miteinander verschwimmen – denn unsere Arbeit ist nun mal ein riesiger Bestandteil unseres Lebens. Arbeit muss Begeisterung auslösen.

Was genau macht ortsunabhängiges Arbeiten so reizvoll?

Jannik: Flexibilität, Freiheit, neue Möglichkeiten und Chancen, interessante Menschen – es ist das ganze Lebensgefühl. Durch diesen Lebensentwurf kann ich selbstbestimmt handeln. Für mich ist es ein Luxus, sich den eigenen Lebensmittelpunkt selbst auszusuchen und Heimaten auf der ganzen Welt zu haben. So kann ich meine 4.000 Wochen in jeder Hinsicht genießen. Ich möchte Erlebnisse und Reisen nicht ins letzte Drittel meines Lebens schieben, sondern jetzt all die Dinge machen, auf dich ich Lust habe. 

„Wir leben in einer Welt, in der sich die Rahmenbedingungen schneller ändern, als je zuvor.“

INTERVIEW Jannik Voss Solopreneur Studio Coach CafeAuf Bali in einem Café in Canggu; © Jannik Voß - Solopreneur StudioWas bedeutet dir Sicherheit - vor allem finanzielle Sicherheit - im Kontrast zu Freiheit?

Jannik: Für mich gibt es hier keinen Kontrast. Sicherheit ist eine Illusion. Wir leben in einer Welt, in der sich die Rahmenbedingungen schneller ändern, als je zuvor. Wandel ist völlig normal geworden. Wer sich nicht immer wieder neu erfindet und digitale Chancen nutzt, ist nicht wettbewerbsfähig – und dementsprechend auch nicht „sicher“.

Finanzielle Sicherheit bedeutet für mich Freiheit. Geld ist ein Mittel zum Zweck. Es dient als potenzielle Energie. Energie, die man nutzen sollte, um eigene Projekte zu verwirklichen und eindrucksvolle Erlebnisse zu sammeln. Ein ortsunabhängiges Leben als digitaler Solopreneur bietet riesige Chancen – weil man sein Einkommen diversifizieren und von Geo Arbitrage profitieren kann.

Was bedeutet Geo Arbitrage?

Jannik: Der Begriff geht auf das Buch „Die 4-Stunden-Woche“ von Tim Ferriss zurück. Es ist gewissermaßen die Standardlektüre für ortsunabhängige Entrepreneure. Sinngemäß sagt der Autor: „Du musst kein Millionär sein, um wie ein Millionär zu leben.“ Wenn du dein Einkommen also in einer starken Währung beziehst und dann die günstigen Lebenshaltungskosten eines Landes ausnutzt, profitierst du von einer höheren Lebensqualität.

„Wer in Deutschland gründen möchte, muss eine hohe Schmerztoleranz mitbringen.“

Wie hast du dich auf Bali eingelebt und wird dieses Land deine Basis sein?

Jannik: Ich bin angekommen. Ich lerne die Sprache, habe viele neue Freunde gefunden und zahlreiche interessante Menschen kennengelernt. Die offene, entspannte Kultur hat einfach einen enorm positiven Effekt auf meinen Alltag. Bali ist meine Basis. Von hier aus reise ich mehrmals pro Jahr in benachbarte Länder, wie Malaysia oder Thailand. Aber auch in Europa möchte ich zukünftig verschiedene „Home Bases“ aufbauen – zum Beispiel in Portugal, Italien oder Spanien.

Ich habe noch viele Länder auf dem Zettel. Glücklicherweise brauche ich lediglich meinen Laptop und gutes Internet, um an meinen digitalen Projekten zu arbeiten. Dementsprechend kann ich spontan und flexibel entscheiden, wo die Reise hingeht.

War die Gründung deines eigenen Unternehmens herausfordernd? Und wie hast du die Herausforderungen gemeistert?

Jannik: Die Gründung an sich war recht einfach. Viele Dinge, die danach kommen, sind in Deutschland jedoch unnötig kompliziert und bürokratisch. Wer in Deutschland gründen möchte, muss eine hohe Schmerztoleranz mitbringen. Da kann es schwerfallen, sich auf das Kerngeschäft zu konzentrieren. Selbstständigen und Unternehmern werden in Deutschland immer wieder bürokratische Brocken in den Weg gelegt – da ist es nicht verwunderlich, dass kreative Gründerinnen und Gründer sich langfristig umorientieren.

Im Solopreneur Studio helfe ich Menschen bei der digitalen Selbstverwirklichung. Ich merke, dass die Mitglieder meiner Community von den deutschen Formalitäten häufig überfordert sind. Neben der Ideenfindung und Evaluierung des digitalen Geschäftsmodells kommt immer auch Überforderung in puncto Bürokratie hinzu. Etwa die Angst, etwas falsch zu machen, steuerliche Fragestellungen, Kosten für einen Steuerberater und so weiter. All diese Dinge rauben wertvolle Zeit und Energie. Ohne einen philosophischen Ansatz hätte ich wahrscheinlich nicht bis heute durchgehalten. Ich habe mich viel mit dem Stoizismus auseinandergesetzt. So habe ich gelernt, Resilienz aufzubauen und die nötige Motivation gezogen, weiterzumachen. Außerdem hilft mir Spiritualität, um meinen eigenen Weg immer wieder klar und deutlich zu definieren. Ich bin überzeugt davon, dass man interdisziplinär an Probleme herangehen muss, um sie bestmöglich zu lösen.

Kannst du dir eine Rückkehr nach Deutschland vorstellen?

Jannik: Nein. Der Lebensstil und die Chancen im Ausland sind einfach viel attraktiver. Deutschland bietet nicht die nötige Infrastruktur, um privat und geschäftlich in dem Maße zu wachsen, wie ich es mir wünsche.

„Je mehr Länder ich bereise und je mehr Kulturen ich kennenlerne, desto klarer wird mir, dass eine kulturelle Identität einengend wirkt und den Blick auf die Vielseitigkeit dieser Welt versperrt.“

INTERVIEW Jannik Voss Solopreneur Studio mit Hundi im AshaMit Hundi im Asha; © Jannik Voß - Solopreneur StudioWie würdest du deine eigene kulturelle Identität verorten?

Jannik: Ich sehe mich als Weltbürger. Jeder Mensch, egal in welchem Land er geboren wurde, ist ein gleichwertiges Mitglied dieser Welt. Jede Kultur bietet spannende und wertvolle Bestandteile. Ich möchte in so viele Kulturen eintauchen wie möglich. Unsere Identität ist aufgebaut wie eine Zwiebel. Im Kern steht das Ich. Und außen herum finden sich zahlreiche Schichten. Etwa die Erwartungen der Gesellschaft, kulturelle Konventionen, Erwartungen von Freunden und natürlich Erwartungen vom Selbst.

Ich denke, dass ein Großteil der eigenen „Identität“ antrainiert ist. Und genau hier kommt das Reisen ins Spiel. Durch das Reisen kann ich neue Versionen von mir selbst ausprobieren. Und ich kann Werte und Normen hinterfragen, die ich zuvor für selbstverständlich gehalten habe. Klar, ich trage immer noch viele stereotypische „deutsche Werte“ mit mir herum. Zum Beispiel Pünktlichkeit oder Struktur. Aber je mehr Länder ich bereise und je mehr Kulturen ich kennenlerne, desto klarer wird mir, dass eine kulturelle Identität einengend wirkt und den Blick auf die Vielseitigkeit dieser Welt versperrt.

Kritiker könnten jetzt natürlich aufschreien und sagen, dass meine Weltanschauung utopisch ist. Und das ist okay. Ich bin in diesem Punkt gerne egoistisch und fokussiere mich auf das, was mich glücklich macht. Denn eine positive Sicht auf die Welt und eine realistische Gewichtung von gut und schlecht hat einen großen Einfluss auf das eigene Wohlbefinden.

„Ich würde eine Reisepflicht einführen, wenn ich könnte – dann würden Menschen auch nicht so viel Fremdenhass entwickeln.“

Fühlt sich die Welt für dich angesichts der geopolitischen Krisen unsicherer an?

Jannik: Früher habe ich viele Nachrichten konsumiert. Nach und nach habe ich aber gemerkt, dass dieser exzessive Konsum meine Weltsicht verzerrt. Heute verbringe ich lieber selbst eine gewisse Zeit in einem Land, um mir eine eigene Meinung zu bilden. Ich glaube, durch den Fokus auf „Bad News“ und den heute so allgegenwärtigen Alarmismus gerät man schnell in eine Negativ-Spirale – und das wiederum verfälscht den Blick auf das Gesamtbild.

Mein persönlicher Eindruck ist, dass die westliche Welt, also vor allem Europa und die USA, bei der Betrachtung und Beurteilung anderer Nationen häufig eine gewisse Arroganz mitschwingen lassen. Toleranz, Empathie und eine globale Perspektive täte der Welt gut. Es gibt nicht den einen Weg, um die Welt zum Positiven zu verändern.

Durch das Reisen wird so vieles klarer. Wenn ich könnte, würde ich in Deutschland eine Reisepflicht einführen – dann würden Menschen nicht so viel Fremdenhass entwickeln. Mein Weltbild ist positiv und ich möchte es mir bewahren.

INTERVIEW Jannik Voss Solopreneur Studio UbudAuf Bali in Ubud; © Jannik Voß - Solopreneur Studio

Über Jannik Voß und das Solopreneur Studio

Im Solopreneur Studio veröffentlicht Jannik digitale Produkte und Impulse für ein kreatives, ortsunabhängiges Leben.

Was bietet das Solopreneur Studio?

  • Digitale Bildungsprodukte (zum Beispiel das Solo Starterpack)
  • Mentoring zum Aufbau eines Full Remote Business
  • Kostenlose Guides rund um die Themen Psychologie, Remote Work und Online Business
  • Solopreneur Community zum Austausch

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Dieser Beitrag stammt aus der Ausgabe März 2023 des Journals "Leben und Arbeiten im Ausland".

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