Ausgerechnet kurz vor Weihnachten mussten sie umziehen. Nicht nur, dass der Umzug alleine schon eine blöde Idee war und Fred so gar nicht gefiel – nein, jetzt bestand sogar die Gefahr, dass der Weihnachtsmann ihn nicht finden konnte. Der Sechsjährige hatte zwar extra noch einen Brief mit der Adressänderung an den Nordpol geschickt, aber man konnte sich heutzutage ja leider nicht mehr auf die Post verlassen. Wenn er nur wegen des Umzugs das neue rote Fahrrad mit den Rennautos darauf nicht bekommen würde, dann würde er mächtig sauer werden und ordentlich mit Mama schimpfen. Die war ja schließlich schuld an dem ganzen Schlamassel.
Jetzt saß er hier in seinem neuen Zimmer zwischen Kartons mit blauen Punkten, die dafür standen, dass sich Freds Spielsachen darin befanden. Sein Papa war irgendwann völlig genervt gewesen, weil Fred im alten Haus in Birkenwalde ständig die Kartons öffnete, meistens auf der Suche nach einem Buch, einem Matchbox-Auto oder anderen Spielsachen. Um das Chaos nicht komplett ausufern zu lassen, wurden Freds Kartons einfach mit blauer Farbe markiert. Ach, Birkenwalde…Fred hatte Sehnsucht nach seinem alten Zuhause, wo es seiner Meinung nach viel schöner war. Erstens hatten sie ein Reihenhaus gehabt und nicht eine Wohnung im Mehrfamilienhaus. Zweitens hatte er dort schon alleine in den Kindergarten gehen können, denn der befand sich praktisch auf der gegenüberliegenden Straßenseite von der Wohnsiedlung. Jetzt musste er immer mit seinem Papa mit dem Fahrrad in den neuen Kindergarten und saß gelangweilt im Kinderanhänger. Und drittens hatten im alten Haus fast alle seine Freunde in der Nachbarschaft gelebt, sodass er jeden Tag mit jemand anderem spielen konnte. Und ganz besonders schlimm war es, dass er nicht mehr regelmäßig mit seiner geliebten Oma Kakao trinken konnte. Keiner verstand es besser, Fred zu trösten und ihm Mut zuzusprechen.
„Eine solche Chance bekommt man nun mal nicht jeden Tag“, hatte seine Mutter ihm erklärt. Mamas Chef wollte, dass sie in der neuen Firma in der Schweiz arbeitet. Bisher fand Fred, dass Mama einen tollen Job hatte und ein Wechsel gar nicht nötig war. Sie kontrollierte nämlich in der Fabrik, ob die Schokolade, die dort hergestellt wurde, wirklich gut schmeckt. Wenn Fred einmal groß war, wollte er auch im Betrieb seiner Mutter arbeiten, wenn es mit dem Job in der Eisdiele nicht klappen sollte. Denn noch viel lieber als Schoki mochte Fred Speiseeis. Jedenfalls schien Schokolade noch besser zu schmecken, wenn sie in der Schweiz hergestellt wurde, anders ließ es sich nicht erklären, warum die ganze Familie einschließlich Fred, seiner anderthalbjährigen Schwester Frida und dem Papa nur wegen Mamas Arbeit in die Schweiz ziehen musste.
Mama und die blöde Schweizer Schokolade waren also schuld daran, dass Fred jetzt schlechte Laune hatte und überhaupt das wohl unglücklichste Kind der Welt war. Im neuen Kindergarten war es auch doof. Zum einen hatte er noch Schwierigkeiten, die Erzieher und anderen Kinder richtig zu verstehen – umgekehrt verhielt es sich ähnlich – und zum andern war da diese furchtbare Lina. Die hatte es auf ihn abgesehen. Dass Mädchen so gemein sein konnten, hätte Fred ja nicht gedacht, aber diese Lina übertraf seine schlimmsten Vorstellungen. Immer wenn keiner hinsah, schubste oder kniff sie ihn. Wenn es mal etwas Leckeres zum Nachtisch gab, Vanillepudding oder so, dann schnappte sie sich einfach Freds Portion und grinste ihn dabei ganz unschuldig an. Besonders furchtbar war es aber, dass sie eine Gabe hatte, die anderen Kinder auf ihre Seite zu ziehen und gegen ihn aufzubringen. So hatte sie ihm den Spitznamen „Rotrübli“ gegeben, weil er ja Ausländer sei und sein blondes Haar einen leichten Rotstich hatte. Außerdem machte Lina sich gemeinsam mit den anderen über seine Aussprache lustig. Ausgerechnet die Kinder fanden, dass er komisch spricht. Hatten die sich schon mal selbst zugehört?
„Oma, was soll ich nur machen?“, fragte er an einem der Abende, an denen er mit ihr skypte. „Sei du selbst, mein Kleiner und versuche sie für dich zu gewinnen. Die Kinder in deiner Gruppe werden schnell herausfinden, was für ein toller Junge du bist.“ Aber wie er das anstellen sollte, wusste er nicht. Und auch bezüglich der lästigen Lina konnte Oma ihm nicht wirklich weiterhelfen. „Weißt du Fred“, sagte sie „Manche Menschen sind besonders schlecht zu anderen, weil es ihnen nicht gut geht. Sie versuchen, von ihren eigenen Sorgen abzulenken, indem sie andere piesacken, aber eigentlich sind sie ziemlich arm dran.“ Pah, Lina doch nicht. Die sah nicht so aus, als ob es ihr irgendwie schlecht geht und sie etwas zu verbergen hatte. Oma verstand das einfach nicht. Es ist einfach schon zu lange her – bestimmt hundert Jahre – das sie ein Kindergartenkind war, entschuldigte Fred ihr Verhalten.
Er grübelte aber lange, wie er die anderen Kinder für sich gewinnen konnte. Vor allem Kilian, Amelie und David schienen eigentlich ganz lustig zu sein. Die hätte er gerne als Freunde. Dann kam ihm die zündende Idee. Mama hatte den ganzen Schlamassel verursacht, also sollte sie ihm hierbei auch heraushelfen. Beim Abendbrot erzählte er ihr von seinen Plänen – nur nahm er es mit der Wahrheit nicht ganz genau. „Du Mama, es gibt sogar in der Schweiz Kinder, die manchmal hungern müssen. Und stell dir vor, manche haben nicht mal Geld für Schokolade! Hast du das gewusst?“, sagte er. „Da siehst du mal, wie gut du es hast“, wies ihn Papa gleich zurecht. Fred unterdrückte den Impuls, mit den Augen zu rollen und berichtete weiter von seinem Plan. „Wir sollen für den Kindergarten etwas sammeln, wovon wir ganz viel übrig haben. Und das schenken wir dann zu Weihnachten den armen Kindern. Ich dachte, dass du vielleicht von der Arbeit ganz viel Schokolade mitbringst und die nehme ich dann mit, damit sie in unseren Spendenkarton kommt“, führte er aus. „Hm, das ist eine schöne Idee“, kommentierte seine Mutter. „Ich schaue mal, was ich machen kann.“
Mensch, das war ja einfach, dachte Fred. Bald würde er sich vor Freunden nicht mehr retten können. Innerlich jubelte er schon und freute sich auf das überraschte Gesicht von Lina. Pünktlich zum Nikolaustag konnte er mit einer großen Kiste feinster Schokoladenweihnachtsmänner aus Mamas Fabrik in seiner Gruppe auftrumpfen. Als er die begeisterten Blicke von Kilian, David und Amelie sah, ging ihm das Herz auf. Vor Freude überschäumen hätte er können, als er das verdutzte Gesicht von Lina sah, das sich binnen Sekunden zu einer äußerst verärgerten Miene wandelte. Hah, jetzt guckst du, was?, triumphierte Fred innerlich. Er genoss es, wie seine Gruppe ihn umringte und mit Fragen bestürmte. „Kennt deine Mama den Nikolaus?“, fragte ein Kind. „Wie wird die Schokolade hergestellt?“, fragte ein anderes. „Dürfen wir mal mit in die Schokoladenfabrik kommen?“ Alle interessierten sich plötzlich für ihn und Fred genoss es, wie sich die Aufmerksamkeit auf ihn richtete, ohne, dass ihm seine Anziehsachen entwendet wurden oder Zahnpasta in die Schuhe gedrückt worden war oder Lina ihn mal wieder in eine Pfütze geschubst hatte. Auch nannten ihn die Kinder das erste Mal an diesem Tag nicht „Rotrübli“, sondern bei seinem richtigen Namen.
Am selben Abend noch skypte er Oma an und erzählte ihr von seinem Erfolg. Nur leider mochte sie sich nicht so sehr für ihn freuen, wie er es sich erhofft hatte. „Mein Schatz, ich bin so froh, dass du ein schönes Erlebnis in deinem neuen Kindergarten hattest und ich weiß, wie sehr du dich nach Anerkennung und Freundschaft sehnst. Aber meinst du nicht, dass du die Kinder für etwas gewonnen hast, das eigentlich gar nichts mit dir zu tun hat? Du hast es doch gar nicht nötig, dir Zuneigung auf diese Weise erkaufen zu müssen“, sagte sie und fast hatte Fred das Gefühl, sie sei enttäuscht von ihm. Oma war einfach schon zu alt, die konnte nicht verstehen, was es bedeutet, jeden Tag mit Bauchschmerzen in den Kindergarten gehen zu müssen, beruhigte er sich selbst.
Leider sollte seine Oma Recht behalten. Es dauerte nicht lange und der positive Effekt der Schokoweihnachtsmänner-Überraschung war verpufft. Kurzfristig war Fred beliebt gewesen, aber nur wenige Tage später war wieder alles beim Alten. Wenn nicht sogar noch schlimmer, denn Lina war gemeiner denn je zu ihm. Sein einziger Trost bestand darin, dass das Mädchen sich auch den anderen in der Gruppe gegenüber nicht besonders nett verhielt und auch anderen das Leben schwer machte. Doch eines Tages überspannte sie den Bogen. Fred spielte gerade mit der allseits beliebten Holzeisenbahn, als das freche Gör auf ihn zukam und das Spielzeug für sich beanspruchen wollte. Doch diesmal wollte er nicht klein beigeben und wehrte sich. Er umklammerte die Lokomotive mit beiden Armen und nahm sich fest vor, sie nicht Lina zu überlassen, die unterdessen mit aller Kraft an dem Teil zog. Auch Fred spannte seinen ganzen Körper an und zog von der anderen Seite, als ihm sein Gegenüber plötzlich mit einem Ruck das Holzobjekt entriss. Fred taumelte ein paar Schritte nach hinten und schlug mit dem Hinterkopf an der scharfen Kante der großen Holzküche im Spielzimmer auf.
Für einen kurzen Moment war er weggetreten und als er wieder aufwachte, schaute er in besorgte Gesichter. „Rotrübli blutet ja“, hörte er Kilian rufen. An seinem Hinterkopf spürte er einen großen Schmerz und als er sich dort berührte, spürte er seine Hand nass werden. Komisch, dachte er noch, als er mit einem Mal sah, dass seine Hand blutverschmiert war. Mehr vor Schreck als vor Schmerz begann er fürchterlich zu weinen. Wir rufen deine Eltern an, beruhigte ihn seine Erzieherin. Amelie und David hielten Fred ganz fest und versuchten ihn zu beruhigen. Es dauerte nicht lange und sein Vater war da. „Na du kleiner Abenteurer, dann wollen wir uns mal das örtliche Krankenhaus ansehen“, sagte er mit einem Augenzwinkern. Dann radelten beide in die Notaufnahme. Fünf Bücher las ihm Papa vor, bis Fred endlich von einem Arzt behandelt wurde. Die Platzwunde am Hinterkopf musste genäht werden und vorher rasierte ihm ein Krankenpfleger ein paar Haare weg. Fred ertrug alles ganz tapfer und weinte auch nur ein klein wenig.
„So, kleiner Mann“, sagte Papa. „Es wird Zeit, dass wir mal wieder etwas Schönes unternehmen. Mama nimmt sich den Rest des Tages frei, holt deine kleine Schwester aus der Krippe und dann gehen wir Eis essen“, schlug sein Vater vor. Eis essen! Mitten im Winter! Cool! Fred war begeistert und vergaß seine Wunde am Hinterkopf für einen Moment. Im Einkaufszentrum der Stadt fanden sie dann auch ein richtig schönes Eiscafé, wo Fred sich den größten Becher aller Zeiten bestellen durfte. Der war so hoch, dass er nicht einmal rüber schauen konnte. Beim Verputzen seiner kalten Lieblingsspeise leistete er Abbitte und gestand seinen Eltern, wie schwer die ersten Wochen im neuen Kindergarten waren. Er beichtete seiner Mutter auch, dass die Schokoweihnachtsmänner gar nicht für arme Kinder bestimmt waren, sondern dass er sich davon erhofft hatte, dass die Kindergartenkinder ihn mögen würden. Glücklicherweise war sie nicht böse auf ihn, nur enttäuscht, dass er ihr nicht gleich erzählt hatte, wie schlecht es ihm in der neuen Einrichtung ging. „Ihr hattet so viel zu tun und du sagtest, dass es für dich auch nicht so einfach bei der Arbeit ist. Ich wollte nicht so viel jammern“, rechtfertigte sich Fred. „Das war dann für uns alle bisher kein leichter Start, was?“, sagte Freds Vater. „Aber wir werden uns schon noch eingewöhnen, da bin ich mir ganz sicher. Und was die biestige Lina angeht, so müssen wir uns mal ihre Eltern vorknöpfen, so geht es nicht weiter“, ergänzte Mama und schüttelte verärgert den Kopf.
Nach dem schönen Besuch im Eiscafé durfte Fred zum Weihnachtsmann gehen. Der hatte nämlich einen offiziellen Besuchstermin im Einkaufszentrum und die Kinder durften persönlich mit ihm sprechen. Fred wollte unbedingt noch einmal sichergehen, dass der Brief an den Weihnachtsmann mit der Adressänderung auch wirklich angekommen war. „Ich lauf schon mal vor“, rief er zu seinen Eltern und rannte davon – geradewegs in die Arme von Lina. Verdutzt schauten sich beide an. „Wwwas machst du denn hier“, stotterte Fred. „Ähm, ich war beim Weihnachtsmann, um mir etwas zu wünschen“, sagte Lina leise. So kannte Fred sie gar nicht. Moment, hatte Lina etwa geweint? „Ist alles in Ordnung?“. Doch Lina wandte sich von ihm ab. „Geht es dir denn wieder besser?“, fragte sie kleinlaut und ergänzte: „Es tut mir leid, dass ich dir weh getan habe, das war keine Absicht.“ Ein Teil von Fred wollte einfach nur triumphieren und Lina ein richtig schlechtes Gewissen machen. Schließlich hatte sie ihm das Leben in den letzten Wochen sehr schwer gemacht. Aber ein anderer Teil von ihm hatte plötzlich großes Mitleid mit dem Mädchen, das hier im Einkaufszentrum gar nicht mehr so selbstbewusst wirkte wie sonst. „Sag mal, bist du allein hier oder wo sind deine Eltern?“, fragte er. „Ach die..“, sagte Lina und machte eine abwertende Handbewegung. „Die interessieren sich überhaupt nicht für mich. Sind nur mit ihren Streitereien beschäftigt.“ Es stellte sich heraus, dass Lina ihren kranken Opa im Pflegeheim direkt neben dem Einkaufszentrum besucht hatte und danach beim Weihnachtsmann vorsprechen wollte. Sie wünschte sich nichts sehnlicher, als dass ihr Opa wieder gesund würde und ihre Eltern sich vertragen. Diese sprachen sogar schon von Trennung und davon, dass Lina sich dann entscheiden müsse, bei wem sie zukünftig wohnen wollte.
„Weißt du was, du isst heute bei uns Abendbrot. Meine Mama ruft gleich bei deinen Eltern an, damit sie sich keine Sorgen machen“, schlug Fred vor und so machten sie es auch. Zu Hause saßen sie um den großen runden Tisch herum, der Adventskranz mit drei erleuchteten Kerzen in der Mitte, einen heißen Kakao in der Hand und ein leckeres frisches Brot mit Wurst auf dem Teller. Erfreut stellte Fred fest, wie Lina sich mit großen Augen bei ihm umsah. „Weißt du Lina“, sagte er. „Ich vermisse meine Oma auch sehr, deshalb kann ich mir vorstellen, wie es dir geht, wo dein Opa so krank ist.“ „Er ist der einzige, der mich versteht“, sagte Lina. „Meine Eltern interessieren sich nicht mal richtig für mich“, seufzte sie. „Sie lieben dich ganz sicher“, schaltete sich Freds Papa in die Unterhaltung ein. „Aber wir Erwachsenen sind manchmal viel zu sehr mit uns selbst und unseren Problemen beschäftigt, dass wir gar nicht mitbekommen, dass auch unsere Kinder ihre Sorgen und Nöte haben“, fuhr er nachdenklich fort und tätschelte dabei Freds Kopf. Dieser fühlte sich das erste Mal seit dem Umzug in die Schweiz wieder richtig gut.
Es war ein gutes Gefühl, Lina besser kennengelernt zu haben und er war froh, dass er sich entschieden hatte, nett zu ihr zu sein. Oma hatte Recht, wenn sie immer sagte, dass ein freundliches Lächeln der Schlüssel zu den Herzen der Menschen ist. Jetzt verstand er auch, warum das Mädchen immer so gemein und mies gelaunt war. Ist ja kein Wunder, wenn die Eltern ständig streiten und sich nicht für ihre Kinder interessieren. Fred selbst war ja auch nicht gerade der größte Sonnenschein gewesen, nachdem seine Eltern mit ihm und seiner kleinen Schwester in die Schweiz gezogen waren. Ihm kam die Erkenntnis, dass es vielleicht auch an ihm gelegen haben könnte, dass sich keines der Kinder im Kindergarten anfangs mit ihm anfreunden wollte. Oma sagte außerdem immer, wie es in den Wald hineinschallt, so schallt es auch heraus. Jetzt verstand er, was dieser Satz bedeuten könnte. Tja, da hätte er sich wohl erst einmal an die eigene Nase fassen (O-Ton Mama) und von sich aus auf die Kinder zugehen müssen. Was man alles so lernt, wenn man umzieht – erstaunlich.
Noch erstaunlicher war, dass Fred seine Kopfwunde fast komplett vergessen hatte. Wer hätte gedacht, dass dieser Unfall so viel Gutes brachte. Er hatte einen tollen Tag mit seiner Familie verbringen können, mitten in der kältesten Zeit des Jahres ein riesiges Eis weggegessen und er hatte seinen Eltern endlich von seinen Anfangsschwierigkeiten in der neuen Umgebung erzählt. Das Schönste aber überhaupt war, dass er sich nun endlich mit Lina vertrug. Entsprechend schön waren die letzten Tage im Kindergarten vor Weihnachten. Lina und Fred waren geradezu unzertrennlich. Ihre Versöhnung war von den anderen Kindern mit großem Erstaunen, aber auch mit Erleichterung zur Kenntnis genommen worden. Zudem war Fred zwei Tage lang der Mittelpunkt der Aufmerksamkeit, denn er musste minutiös beschreiben, wie es in der Notaufnahme des Krankenhauses gewesen war, wie sehr es weh getan hatte, als der Arzt das Loch im Kopf zunähte und wie es sich anfühlte, an einer Stelle auf dem Kopf keine Haare mehr zu haben.
Das waren nur einige Fragen von vielen, die Fred beantworten musste und er genoss es sehr. Das Tollste war, dass die Kinder sich plötzlich auch für ihn als Person interessierten und wissen wollten, wie sein zu Hause in Birkenwalde gewesen war. Dabei lernte er auch, welches Schweizer Wort was bedeutete, zum Beispiel, dass Rübli Karrotte hieß und dass sein geliebtes Eis hier wie Glas ausgesprochen wurde. „Oma, jetzt erzähle ich dir mal eine Weisheit“, triumphierte er eines Abends beim Skype-Telefonat. „Na dann schieß mal los“, forderte ihn Oma amüsiert auf. „Egal, wo man wohnt, ob im schönen Birkenwalde, im Takatuka-Land oder in der Schweiz – die Kinder sind doch irgendwie alle gleich und haben auch die gleichen Probleme. Es ist überall dasselbe. Und wenn man Freunde haben möchte, darf man nicht warten, dass sie zu einem kommen. Wenn man neu ist, muss man einfach auch mal den ersten Schritt machen und die Hand ausstrecken.“ Eigentlich war es ganz einfach, hatte Fred festgestellt. „Mein Schatz, ich bin ganz doll stolz auf dich“, lobte ihn seine Oma und es schien, als müsste sie eine Träne wegblinzeln. „Was du in solch kurzer Zeit an Lebensweisheiten gewonnen hast, das ist wirklich toll. Das wird mit Sicherheit auch der Weihnachtsmann so sehen und dich dafür belohnen.“
Ach du Schreck, der Weihnachtsmann! Den hatte Fred ja ganz vergessen. Hoffentlich hatte er die neue Adresse von der neuen Wohnung in der Schweiz bekommen. Am Weihnachtstag konnte Fred seine Aufregung und Sorge um diese Ungewissheit nicht mehr verstecken. Seine Eltern waren schon ganz genervt. „Wir fahren jetzt mit dem Fahrrad eine Runde im Ort und halten bei deinen Kindergartenfreunden an“, schlug sein Papa vor. „Mama hat doch extra große Weihnachtsmänner aus der Fabrik mitgebracht, die du deinen fünf besten Freunden schenken kannst.“ Oh ja, Fred war begeistert. Sie fuhren der Reihe nach bei Kilian, Amelie und David vorbei, die mit ihrer Familie jeweils in schönen Häusern lebten. Überall wurden sie hereingelassen und die Freude über den Besuch und Weihnachtsmann war groß. Während Fred wegen der Unmengen an verzehrten Plätzchen und Lebkuchen irgendwann fast platzte, schien sein Vater immer fröhlicher zu werden. Seine roten Wangen unterstrichen die gute Laune noch einmal mehr. Interessant, was dieses rote heiße Getränk für eine Wirkung bei ihm hatte, dachte Fred bei sich. Schließlich fuhren sie zu Lina, die in einem nicht ganz so schönen Hochhaus am Stadtrand wohnte. Als sie in die Wohnung traten, staunten Fred und Papa nicht schlecht. Es war überhaupt nicht weihnachtlich und auch sonst machte Linas Zuhause keinen besonders gemütlichen Eindruck. „Mein Papa ist gestern Abend ausgezogen. Er hat eine neue Freundin, bei der er jetzt wohnen wird“, berichtete eine sehr niedergeschlagene Lina. „Mama ist bei ihrer Freundin und sehr traurig. Ich glaube, Weihnachten haben meine Eltern dieses Jahr vergessen.“ Arme Lina, das war ja furchtbar! Fred war richtig erschrocken. Auch sein Papa schien plötzlich nicht mehr so heiter und runzelte die Stirn. Er sagte zu Lina: „Du packst deine Reisetasche mit dem Nötigsten, schickst deiner Mama eine Nachricht mit unserer Adresse und Telefonnummer und dann feierst du dieses Jahr Weihnachten bei uns.“
Und genau so war es dann auch. Daheim bei Freds Familie angekommen, begrüßte ihn die Mama mit seiner kleinen Schwester auf dem Arm und einem kerzenerleuchteten Weihnachtsbaum im Wohnzimmer, unter dem sich unzählige Geschenke und ein leuchtend rotes Fahrrad mit Rennautos auf dem Rahmen befanden. „Er hat uns gefunden“, jubelte Fred. Offenbar hatte es etwas gebracht, noch einen persönlichen Brief an den Weihnachtsmann mit der neuen Adresse zu schicken. Es wurde das schönste Weihnachten überhaupt, das Fred in seinen bisherigen sechs Lebensjahren gefeiert hatte. Das schönste Geschenk für ihn war es jedoch, zu sehen, wie Lina für ein paar Stunden richtig glücklich schien. Fred hatte sich freiwillig bereit erklärt, die Hälfte seiner Geschenke ihr zu überlassen, damit sie auch etwas zum Auspacken hatte. Zu seiner Freude und Verwunderung stellte er fest, dass ihn ein noch größeres Glücksgefühl durchströmte als beim Auspacken seiner eigenen Geschenke, wenn er die Begeisterung in Linas Gesicht beim Auspacken der anderen Weihnachtsgaben erblickte. Nie hätte er gedacht, wie schön es sein kann, anderen eine Freude zu machen. Als sie nach der Bescherung schließlich Kartoffelsalat mit Würstchen aßen und Kakao tranken, richtete Fred seinen Blick zum Sternenzelt und sagte in Gedanken ganz laut „Danke!“.
© Anne-Katrin Schulz