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Interview

„Bei vielen Brasilianern ist der Fokus auf den aktuellen Moment wichtiger als das Verfolgen von langfristigen Plänen.“

© Michael Kraemer

Michael Kraemer ist Musiker und lebt bereits seit 15 Jahren in seiner Wahlheimat Brasilien. Warum er sich für ein Leben in Südamerika entschieden hat und welchen Einfluss die dortige Kultur auf seine Musik hat, erzählt er im Interview.

Warum hast du dich für Brasilien entschieden, als du umgezogen bist? Hattest du schon eine Verbindung zu dem Land?

Michael: Geboren bin ich in Mainz, aufgewachsen in Hameln, habe dann in Freiburg studiert – danach ging’s ins Ausland: über Nizza, Genf, Den Haag nach Brasilien. Am 9. April 2006 bin ich per One-Way-Ticket in Brasilien angekommen. Die Ziffern dieses Datums (9 und 4) erscheinen auch im Video-Clip zu Morgen’s Gestern. In Brasilien lebe ich in Florianópolis - das ist in Süd-Brasilien.

Es stand für mich eigentlich schon relativ früh fest, dass ich zumindest einen Teil meines Lebens im Ausland verbringen würde. Eine konkrete Vorstellung, wo genau, hatte ich damals aber noch nicht. Die Liebe hat mich dann nach Brasilien geführt. In Frankreich habe ich meine brasilianische Frau kennengelernt, mit der ich inzwischen hier in Florianópolis lebe.

Mit welchen Herausforderungen hattest du zunächst in Brasilien zu kämpfen?

Michael: Aufgrund der fehlenden Sprachkenntnisse nicht genau das sagen zu können, was ich eigentlich wollte, war anfangs sicherlich die größte Herausforderung und teilweise auch frustrierend. Während dieser Phase habe ich in São Paulo gelebt, einer Metropole, in der mir sehr die Nähe zur Natur gefehlt hat. Die Familie meiner Frau und der neue Freundeskreis haben mich aber bestens aufgenommen und unterstützt, sodass ich mich nach knapp einem Jahr auch bezüglich der Sprache in Brasilien voll angekommen gefühlt habe.

Was hat Brasilien zu bieten, was Deutschland nicht hat?

Michael: Was mir in Brasilien besonders gefällt, ist das Gefühl von Weite, vor allem in noch nicht wirklich erkundeten Regionen. Die Freiheit, dort seinen eigenen Weg finden und gestalten zu können, tut mir sehr gut.

„Was mir in Brasilien besonders gefällt, ist das Gefühl von Weite.“

Wie würdest du die brasilianische Mentalität beschreiben?

Michael: Es ist natürlich immer schwer, so etwas zu verallgemeinern. Bei vielen Brasilianern ist aber schon beim ersten Kontakt eine Herzlichkeit und Hilfsbereitschaft zu spüren, die ich so aus anderen Kulturen noch nicht kannte. Ich würde auch sagen, dass bei vielen Brasilianern der Fokus auf den aktuellen Moment wichtiger ist als das Verfolgen von langfristigen Plänen. 

Was ist typisch deutsch an dir? Worauf wirst du in Brasilien angesprochen?

Michael: Obwohl Freunde öfters im Scherz sagen, dass ich wahrscheinlich der nicht-deutscheste Deutsche bin, den sie kennen, sind mir Pünktlichkeit und Zuverlässigkeit nach wie vor sehr wichtig. Einige der alten Gewohnheiten, so wie bei Rot an einer Fußgängerampel stehenzubleiben, obwohl weit und breit kein Auto zu sehen ist, habe ich aber schon seit Längerem abgelegt.

„Meine Freunde sagen, dass ich wahrscheinlich der nicht-deutscheste Deutsche bin, den sie kennen.“

Inwieweit beeinflusst dich die brasilianische Musik beziehungsweise was zeichnet die Musik Brasiliens aus?

Michael: So wie die verschiedenen Regionen Brasiliens, ist auch die brasilianische Musik sehr vielfältig und zum Teil auch regional geprägt. Was mich besonders beeindruckt hat, ist, wie an sich eher traurige Texte auch zu einem fröhlichen Rhythmus mit einem Lächeln im Gesicht gesungen werden können.

INTERVIEW Michael Kraemer 2© Michael Kraemer

Wenn du heute nochmal irgendwo hinziehen würdest, wo würdest du hin?

Michael: Ich bin hier in Florianópolis eigentlich rundum glücklich und habe noch keinen für mich passenderen Fleck auf dieser Erde gefunden. Florianópolis ist für mich die perfekte Mischung aus Schönheit und Ruhe der Natur auf der einen Seite und dem Komfort einer sicheren Großstadt auf der anderen Seite. Außerdem lebe ich nur wenige Minuten von meinem Lieblingsstrand entfernt, an dem schon einige Songideen entstanden sind.

Vermisst du manchmal dein Leben in Deutschland? Würdest du irgendwann nochmal zurückziehen?

Michael: Ich vermisse vor allem das Zusammensein mit Familie und alten Freunden. Spontane Besuche sind aufgrund der Distanz natürlich nur noch schwer zu organisieren. Ich probiere aber, mindestens einmal im Jahr nach Deutschland zu kommen und freue mich immer sehr auf den Besuch in der alten Heimat. Ein Umzug zurück nach Deutschland ist aktuell aber nicht geplant. Hier in Süd-Brasilien, zwischen Strand und Atlantischem Regenwald, fühle ich mich sehr wohl – und zu Hause.

„An meinem Lieblingsstrand sind schon einige Songideen entstanden.“

Über dich gibt es eine Doku: Wie kam es dazu, welche Momente waren schwierig zu filmen, welche einfacher?

Michael: Die Idee zur Doku entstand nach dem Dreh zum Video-Clip von „Was bleibt“ im Amazonasgebiet. Zusammen mit dem Regisseur Antonio Rossa und Marcelo Mudera haben wir überlegt, in welcher Form wir die Hintergrundgeschichte zu diesem Song am besten erzählen können. Ursprünglich war eigentlich nur ein einfaches Interview angedacht. Wir haben uns dann zusammen Fotos und Videos aus meinen alten Bandzeiten angeschaut und sind tiefer in die Hintergrundgeschichten zu den anderen Songs eingetaucht. Da wuchs nach und nach die Idee, aus dem ganzen Material eine Doku zu machen.

Insgesamt haben sich die Arbeiten an diesem Projekt über ein Jahr erstreckt. Ein besonderer Moment dabei waren die Dreharbeiten mit einem kleinen Segelboot auf offenem Meer. Um bei Sonnenaufgang filmen zu können, mussten wir mitten in der Nacht aufbrechen und sind bei Mondlicht und sternenklarem Himmel über die Wellen geglitten. Das Segeln in den Sonnenaufgang hinein werde ich wahrscheinlich nie mehr vergessen.

Du hast sehr offen über den Grund gesprochen, warum du aufgehört hast, Musik zu machen, als du jünger warst: der Tod deines Freundes. Wie war es für dich, etwas so Persönliches mit der Welt zu teilen? Was hat dich dazu bewegt?

Michael: Es war ein längerer Prozess, diese Entscheidung zu treffen. Die beiden Songs „Federleicht“ und „Was bleibt“, die ich kurz nach Willems Tod für ihn geschrieben habe, sind vor zwanzig Jahren entstanden. Nachdem wir die neuen Versionen während der Pandemie hier in Brasilien aufgenommen haben, hat sich mir die Frage gestellt, was mit dem Material passieren soll. Bis zu dem Punkt war die Hintergrundgeschichte zur Entstehung der Songs nur Familienmitgliedern und engen Freunden bekannt. Ich habe dann den Kontakt zu ihnen und anderen Weggefährten aus der damaligen Zeit gesucht und sie um ihre Meinung gebeten. Es waren emotionale und sehr schöne Gespräche, die auf mich wie eine Zeitreise wirkten. Wir alle waren schließlich der Meinung, dass die Veröffentlichung der Songs zusammen mit ihren Hintergrundgeschichten eine schöne und passende Form der Erinnerung an Willem ist.

Was war bisher dein Lieblingsauftritt oder Festival, wo du gespielt hast und warum?

Michael: Eines der Highlights war sicherlich der Auftritt in 2001 mit meiner damaligen Band c*clay beim Orange Blossom Special Festival. Mit c*clay haben wir Southern Rock gespielt und bei dem Festival hat einfach alles gepasst – vor, auf und hinter der Bühne. Wir wurden von einem super Team betreut und durften vor einem fantastischen Publikum unsere Songs spielen.

Für welchen Song im Album hast du am längsten gebraucht?

Michael: Schon in der Vorbereitungsphase auf die Aufnahmen im Studio habe ich gemerkt, dass mir der Song „Was bleibt“ immer noch sehr nahe geht. Bewusst habe ich ihn dann auch als letzten eingesungen. Viel länger als die Aufnahmen der anderen Songs hat die Aufnahme zu „Was bleibt“ zwar nicht gedauert, es war aber die für mich emotionalste.

„Gemütliches Beisammensein und gutes Essen sind auch bei uns in Brasilien das Wichtigste am Heiligen Abend.“

Wie feierst du Weihnachten in Brasilien? Gibt es eine Verschmelzung von deutschen und brasilianischen Bräuchen?

Michael: Selbst nach gut 17 Jahren in Brasilien habe ich mich immer noch nicht wirklich an die Weihnachtsdekoration im tropischen Hochsommer gewöhnt. Tannenbäume und Rentierschlitten wirken hier eher etwas fehl am Platz. Gemütliches Beisammensein und gutes Essen sind aber auch bei uns in Brasilien das Wichtigste am Heiligen Abend - natürlich neben der Bescherung, die hier allerdings immer erst um Mitternacht stattfindet.

INTERVIEW AdobeStock 105566150Weihnachten im Rio de Janeiro © Donatas Dabravolskas, AdobeStock

Welche Musik hörst und spielst du zur Weihnachtszeit in Brasilien: deutsche, brasilianische oder beides? Und welche sind deine liebsten Weihnachtssongs?

Michael: An „7 O‘Clock News/Silent Night“ von Simon & Garfunkel habe ich schöne Erinnerungen an Weihnachten in meiner Jugendzeit. Ansonsten bin ich eigentlich kein großer Fan von Weihnachtssongs. Wir hören zwar auch an Weihnachten viel Musik, es gibt aber keine bestimmten Songs, die bei uns zu Hause an Weihnachten laufen. Dieses Jahr werde ich die Tage zwischen den Jahren nutzen, um weiter an neuen Songs zu arbeiten. Einer der neuen Songs, die nächstes Jahr erscheinen werden, heißt Ausland-Zuhause. 

Über Michael Kraemer

Michael Kraemer ist ein deutscher Sänger und Songwriter, der in Brasilien sein neues Zuhause gefunden hat. Seine musikalische Reise begann in den Neunzigerjahren in Hameln, als er der Einladung seines besten Freundes folgte, in einer Grunge- und Southern Rock-Band als Sänger mitzuwirken. Gemeinsam nahmen sie EPs auf, spielten auf verschiedenen Festivals und schienen auf dem besten Weg zu sein, ihren musikalischen Traum zu verwirklichen.

INTERVIEW Nichts tut mehr weh

Von 1995 – 1998 war Michael Kraemer Lead Sänger der Band „Mockin‘ Birds“ (später: Calumet) sowie 1998-2002 Lead Sänger der Band „c•clay“. Der plötzliche Tod eines engen Bandfreunds brachte Michael jedoch vorübergehend von seinem musikalischen Pfad ab.

INTERVIEW Zwischen den Jahren

Der Musiker und Singer-Songwriter mit deutschen Wurzeln lebt seit über 15 Jahren in Brasilien. Seine einzigartige Musik verbindet deutsche Tex­­te mit den lebhaften Rhythmen Brasiliens und entführt Zuhörerinnen und Zuhörer auf eine emotionale Reise. 

Kürzlich veröffentlichte Michael Kraemer sein Debütalbum „Zwischen den Jahren“, dass auf allen Download- und Streamingplattformen verfügbar ist. Dieses Album dient nicht nur als musikalisches Erlebnis, sondern auch als Autobiografie. Michael nimmt seine Zuhörerinnen und Zuhörer mit auf eine Reise von den Neunzigerjahren in Deutschland bis zu seinem aktuellen Leben in Brasilien.

Dieser Beitrag stammt aus der Ausgabe Dezember 2023 des Journals "Leben und Arbeiten im Ausland".

Das Journal erscheint monatlich kostenlos mit vielen informativen Beiträgen zu Auslandsthemen.

Herausgegeben wird es vom BDAE, dem Experten für die Absicherung im Ausland.