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Interview
Rechtsanwalt Paul Scarcia-Scheel / Central Park, New York, USA © mandritoiu, AdobeStock

„Die USA sind ein Land der Gegensätze“

Der Rechtsanwalt Paul Scarcia-Scheel ist gebürtiger US-Amerikaner und wuchs überwiegend in Deutschland auf. Mittlerweile lebt er in New York, und sich damit einen Kindheitstraum erfüllt. Im Interview erzählt er, wie es war zwischen Schwarzwald und Manhattan zu pendeln, was Heimat für ihn bedeutet und wie sich das Leben in zwei parallelen Welten anfühlt. Zudem erläutert er, welche Branchen derzeit gute Chancen auf Aufenthaltstitel für potenzielle Expats haben.

Sie sind Deutsch-Amerikaner und haben 2022 Ihre Kanzlei in New York gegründet, sind aber überwiegend in Deutschland aufgewachsen. Wie und wo würden Sie Ihre Identität verorten?

Scarcia-Scheel: Ich wurde als Sohn einer Deutschen und eines US-Amerikaners italienischer Abstammung im US-Bundesstaat New Jersey unweit von New York City geboren. Meine Mutter war damals als Au-Pair in die USA gegangen und hatte eigentlich gar nicht vor, dauerhaft dort zu bleiben. Aber dann lernte sie meinen Vater kennen und die beiden heirateten einander. Die ersten fünf Jahre meines Lebens verbrachte ich in New Jersey, USA, bis sich meine Eltern trennten. Meine Mutter und ich zogen dann nach Deutschland, in einen kleinen Ort am Fuße des Nordschwarzwalds in der Nähe von Karlsruhe. Eine Zeitlang ging ich sogar noch in den amerikanischen Kindergarten, der sich damals auf dem Gelände der US-Kaserne in Karlsruhe befand, als noch US-Truppen in Deutschland stationiert waren. Fortan wuchs ich in Deutschland auf.

Meine kulturelle und soziale Prägung fand somit in Deutschland statt, da ich dort meine Kindheit und Jugend verbracht habe. Ich bin durch diese Sozialisation der deutschen Kultur näher als der amerikanischen. In den USA bin ich in so manches Fettnäpfchen getreten und tue es wohl auch heute noch.

Inwiefern? In welche Fettnäpfchen sind Sie schon getreten?

Scarcia-Scheel: Deutsche sind im Vergleich zu US-Amerikanern deutlich direkter. Wenn wir Deutsche „nein“ sagen, dann tun wir das sehr direkt und ohne Umschweife, das ist in den USA nicht üblich. Dort gilt es tendenziell als unhöflich, Probleme explizit anzusprechen. Ich kenne ausgewanderte Deutsche, denen ihre direkte Art bei ihrer Karriere im Wege stand.

Wenn man im beruflichen Kontext Kritik äußern will, sollte man, wie die Amerikaner, die Sandwich-Taktik verfolgen: Also mit einer positiven Äußerung beginnen, dann die kritischen Punkte benennen und mit einem positiven Ausblick enden. Sinngemäß: Ich bin sicher, dass du dein Verhalten ändern kannst.

Auch habe ich dazu geneigt, die freundliche Art der Amerikaner falsch zu interpretieren. Es fällt einem als Deutscher manchmal schwer, zwischen den Zeilen zu lesen. So habe ich manches Mal gedacht, eine Tür ist noch offen, obwohl sie in Wirklichkeit bereits geschlossen war.

Ich könnte mir auch vorstellen, dass ich auf Amerikaner etwas spröde wirke. Die Menschen hier sind sehr großzügig bei Komplimenten. Mir ist das immer etwas unangenehm, deswegen liegt bei mir die Hemmschwelle für diese Art der wohlwollenden Kommunikation etwas hoch.

„Amerikaner sind sehr großzügig mit Komplimenten.“

Ein wesentlicher Unterschied, den ich immer wieder wahrnehme, ist der Umstand, dass Amerikaner erst einmal handeln und erst später denken – „hands on“ – bei mir ist das umgekehrt und das wurde mir schon als Schwäche ausgelegt, weil es zögerlich wirken kann.

Waren Sie während Ihrer Kindheit regelmäßig bei Ihrem Vater in den USA?

Scarcia-Scheel: Ja. Als ich 12 Jahre alt war, besuchte ich erstmals meinen mittlerweile mit einer Amerikanerin wiederverheirateten Vater in den Sommerferien in den USA. Ich kam damals im LaGuardia Airport im New Yorker Stadtteil Queens an und flog dann mit dem Helikopter über Manhattan zum damals noch kleinen Flughafen nach Newark in New Jersey, wo ich von meinem Vater abgeholt wurde. In dem Moment, als ich mit dem Helikopter über Manhattan flog und seine Skyline und Straßenschluchten sah, war ich infiziert. Der kleine 12-jährige Junge hatte von nun an einen Lebenstraum, und zwar einmal in New York zu leben! Vermutlich hatte meine Mutter den Helikopterflug organisiert, um mir eine Freude zu machen. Klar, es hätte auch weniger spektakuläre Wege gegeben, um von Queens nach New Jersey zu kommen.

Fortan verbrachte ich die Sommerferien beziehungsweise dann später die Semesterferien regelmäßig bei meinem Vater in den USA. New York lernte ich in dieser Zeit sehr gut kennen, und zwar auch abseits der touristischen Pfade.

Mein Vater hatte als „landscaper“, also eine Art Garten- und Landschaftsarchitekt sein eigenes Business und gestalte die Anwesen der Eigenheimbesitzer in New Jersey. Er nahm mich manchmal mit und so bekam ich einen Eindruck vom „lifestyle“ der Menschen.

„Der kleine 12-jährige Junge hatte von nun an einen Lebenstraum, und zwar einmal in New York zu leben!“

Worin genau bestand diese Faszination für New York?

Scarcia-Scheel: Es waren diese Hochhausschluchten und dieser „melting pot“. So viele Menschen unterschiedlicher Herkunft an einem lebhaften Ort, an dem so viel möglich war. Mein Vater ist zwar in den USA geboren, hat aber italienische Wurzeln. Es war unheimlich faszinierend dieses multikulturelle New York zu erkunden und die vielen Einflüsse der Menschen unterschiedlicher Herkunft wahrzunehmen. 

Inwieweit hat Ihre Herkunft und die binationale Beziehung Ihrer Eltern Ihr Weltbild geprägt? Was bedeuten Heimat und Herkunft vor diesem Hintergrund für Sie persönlich?

Scarcia-Scheel: Ich habe sehr früh gelernt, Gegensätze wahrzunehmen. Ich bin in einem Dorf im Schwarzwald aufgewachsen, meine Großeltern hatten eine Forellenzucht. Ländlicher als ich kann man wahrscheinlich nicht aufwachsen. Dann erlebte ich durch die USA-Aufenthalte bei meinem Vater wiederum eine völlig andere und sehr urbane Welt.

INTERVIEW AdobeStock 545692588Manhattan, New York, USA © Oleg Zhukov AdobeStock

„Ich habe früh gelernt, dass Lebensweisen und Lebensentwürfe nicht selbstverständlich sind.“

Ich habe gelernt, dass Lebensweisen und Lebensentwürfe nicht selbstverständlich und vor allem vielfältig sind. Auch bin ich durch das Wechseln zwischen den Welten örtlich ungebundener.

Eine Heimat als solche gibt es für mich momentan nicht. Ob ich nun für den Rest meines Lebens in den USA bleiben werde, kann ich zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht sagen. Vielleicht wird es auch auf ein Hybridmodell hinauslaufen. Ich führe schon so lange ein Leben in zwei Parallelwelten.

Was genau meinen Sie damit?

Scarcia-Scheel: Das Internet hat so viel verändert. Ich kann in New York auf einer Parkbank sitzen und deutsche Nachrichten in Echtzeit lesen. Ich verfolge von Manhattan aus den deutschen Fußball, halte Kontakt mit Freunden und Bekannten in Deutschland – obwohl dazwischen der Atlantik liegt. Diese beiden Parallelwelten nehme ich inzwischen als völlig normal wahr.

Somit hat auch das Thema Auswandern eine ganz andere Bedeutung als beispielsweise vor 40 Jahren. Wer früher auswanderte, musste die Brücken in die alte Heimat weitestgehend abbrechen. Ich habe beispielsweise deutsche Auswanderer kennenglernt, die schon sehr lange in den USA gelebt hatten und ihre deutschen Sätze immer wieder mit englischen Begriffen vermischten. Durch das Internet ist der Sprung in ein neues Land und einen neuen Kulturkreis längst nicht mehr so endgültig wie früher, da man mit einem Bein in seiner alten Heimat bleiben kann.

Mein Aufwachsen zwischen diesen zwei Welten war zugleich Segen und Fluch. Ich genoss die Vorteile und war sehr privilegiert, als junger Mensch zwei Mal im Jahr in die USA fliegen zu dürfen, um Zeit mit meinem Vater zu verbringen. Ich habe dadurch früh unterschiedliche Mentalitäten kennengelernt.

Die Kehrseite war, dass mein Vater nicht dauerhaft präsent war und auch, dass ich manchmal nie so richtig wusste, wo ich eigentlich hingehörte. Das geht mir heute noch so. In Deutschland zieht mich der typisch deutsche Hang zu Miesepetrigkeit oder Unzufriedenheit runter und dann fehlt mir plötzlich der amerikanische Hang zum Pragmatismus und Optimismus. In den USA fehlen mir wiederum manchmal die gewachsene alte Architektur und die kurzen Wege, die es in Europa gibt. Innerhalb einer Autostunde kann man bereits ein anderes Land erreichen 

Nach dem Tod meiner Mutter habe ich keine nahen Verwandten mehr in Deutschland. Mein Vater ist mein nächster Verwandter, ich habe den Wunsch, nun mehr Zeit mit ihm zu verbringen. Es gibt noch Verwandtschaft in Rom und auch in New Jersey lebt eine große italienische Community.

Ihren Traum, eine eigene Kanzlei in Manhattan/New York zu gründen, erfüllten Sie sich aber erst im Jahr 2022?

Scarcia-Scheel: Ich war bereits vor Gründung meiner eigenen Kanzlei einige Jahre juristisch in den USA tätig, davon die meiste Zeit als Anwalt in Manhattan bei einer auf den deutsch-amerikanischen Rechtsverkehr spezialisierten Kanzlei. Nachdem aber meine in Deutschland lebende Mutter schwer erkrankte, kehrte ich nach sieben Jahren in den USA wieder nach Deutschland zurück. Nach dem Tode meiner Mutter ging ich aber wieder zurück in die USA, wo ich mich sodann als Anwalt in New York City selbständig machte und die Kanzlei Scarcia-Scheel Law Firm P.C. gründete.

Nach meinem Abitur hatte ich Rechtswissenschaften studiert, und zwar in Deutschland – konkret Heidelberg – in den USA – in der Stadt Houston – und dann auch noch in Australien in Melbourne.

Sie sind auf deutsches und US-amerikanisches Recht spezialisiert, kennen sich sogar mit dem australischen Recht aus. Das wirkt sehr anspruchsvoll. Wie kann man sich Ihr Wirken vorstellen?

Scarcia-Scheel: Mich mit dem australischen Recht auseinanderzusetzen, war nicht geplant gewesen. Dorthin hatte mich die Liebe verschlagen und deshalb habe ich das australische Recht studiert. Es gehört zum sogenannten Common Law Rechtssystem und ist mit dem US-Recht sehr ähnlich, da die USA ebenfalls ein Common Law Staat sind. Dass ich in Australien das australische Recht studiert habe, kommt mir daher jetzt im Rahmen meiner Tätigkeit als Rechtsanwalt in den USA zugute. Das Common Law ist hauptsächlich geprägt durch maßgebliche richterliche Urteile der Vergangenheit – sogenannte Präzedenzfälle – und stützt sich daher nicht nur auf Gesetze. Das deutsche Recht wird dem Civil Law zugerechnet und hat seinen Ursprung im Römischen Recht. In den Civil Law Staaten sollen Gesetze möglichst alle Eventualitäten regeln, so dass eine sehr detaillierte Kodifizierung angestrebt wird.

Der Tätigkeitsschwerpunkt meiner Kanzlei besteht in der Beratung von Mandanten aus dem deutschsprachigen Raum in deutsch-amerikanischen Rechtsangelegenheiten. Darüber hinaus bin ich regelmäßig für US-Mandanten im Rahmen von deutschen Rechtsstreitigkeiten tätig. Somit bin ich das Bindeglied zwischen zwei unterschiedlichen Rechtssystemen, bei denen Prozesse und Rechtsstreitigkeiten ganz unterschiedlich verhandelt werden.

Beispielsweise vertrete ich aktuell einen New Yorker Arzt, der in Deutschland wegen Verletzung eines Lizenzvertrages verklagt wird. Hier bin ich sein Bindeglied zwischen den deutschen und den amerikanischen Rechtsanwälten.

Ein Schwerpunkt meiner anwaltlichen Tätigkeit ist auch die Beratung im arbeits- und investitionsbasierten US-Visumsrecht. Ich empfinde es nicht nur als berufliche, sondern auch als persönliche Bereicherung, wenn ich Personen dabei helfen kann, ihren amerikanischen Traum zu verwirklichen.

INTERVIEW AdobeStock 193959985© promesaartstudio AdobeStock

„Als deutsch-amerikanischer Anwalt bin ich das Bindeglied zwischen zwei unterschiedlichen Rechtssystemen, bei denen Prozesse und Rechtsstreitigkeiten ganz unterschiedlich verhandelt werden.“

Aktuellen Umfragen zufolge wollen wieder sehr, sehr viele deutsche Unternehmen in den USA investieren (und beispielsweise weniger in China). Welche Branchen haben gute Chancen, Fachpersonal erfolgreich einzusetzen?

Scarcia-Scheel: Im Januar 2023 ist der Inflation Reduction Act in Kraft getreten. Dieser sieht vor, dass innerhalb der nächsten zehn Jahre 370 Milliarden US-Dollar in die Energiewende und in den Klimaschutz investiert werden sollen. Dazu gehören etwa die Modernisierung des nationalen Stromnetzes, der Ausbau klimafreundlicher Infrastruktur, hier insbesondere der Personennahverkehr auf der Schiene, die Entwicklung von Technologien für umweltfreundliche Energie und für die Reduzierung von Emissionen. Unternehmen mit Expertentum in diesem Bereich haben gute Chancen, in den USA zu investieren. Konkret wären das beispielsweise Branchen, die auf erneuerbaren Energien wie Wasserstoff, Solar oder Windenergie spezialisiert sind.

„Die USA waren und sind ein Einwanderungsland.“

Weitere gute Chancen haben Unternehmen für Elektromobilität, im Bereich Schienenverkehr sowie jene in der Batterien-Produktion für E-Autos. Auch hat die IT-Branche weiterhin großen Bedarf an Fachpersonal, und eine weitere hohe Bedeutung hat der Life-Science-Bereich, also die Branchen, die sich mit digital health und MedTech, digitalen Gesundheitsanwendungen und Medizintechnik befassen.

Immer wieder heißt es, die USA seien sehr protektionistisch. Wie nehmen Sie das wahr?

Scarcia-Scheel: Ich würde den Begriff nicht so verwenden. Der Erhalt eines Aufenthaltstitels war schon immer an bestimmte Voraussetzungen geknüpft. Zugleich waren die USA schon immer interessiert daran, Personen aufzunehmen, die einen Mehrwert für die Gesellschaft bieten. Und Personen wie Unternehmen, die in den Staaten gefragt sind, haben auch gute Chancen, hier Fuß zu fassen. Seitdem die Coronapandemie eingedämmt ist, beobachte ich wieder deutlich mehr Anfragen für Aufenthaltstitel, auch seitens deutscher Unternehmen. Für diese sind beispielsweise die steigenden Energiepreise in Deutschland ein Treiber, verstärkt in den USA zu produzieren. Die USA waren und sind ein klassisches Einwanderungsland und immer offen für Einwanderer.

Unter welchen Voraussetzungen können Privatpersonen aus Deutschland eine Aufenthaltsgenehmigung erlangen und wie stehen aktuell die Chancen einen Aufenthaltstitel zu bekommen.

Scarcia-Scheel: Das Einwanderungsrecht ist in den USA sehr kodifiziert. Das bedeutet, dass die Einwanderungsgesetze und -bestimmungen in einer systematischen und umfassenden Weise schriftlich niedergelegt sind, die im Immigration and Nationality Act (INA) zusammengefasst und organisiert sind.

Für ausländische Personen gibt es im Wesentlichen vier Möglichkeiten, eine Aufenthaltserlaubnis zu erlangen:

Die erste Möglichkeit ist die Familienzusammenführung, bei der man beispielsweise nachweisen muss, dass man ein qualifizierendes Familienmitglied eines US-Bürgers oder eines permanenten Einwohners mit Greencard ist. Qualifizierende Beziehungen können insbesondere die Ehepartnerin, unverheiratete Kinder unter 21 Jahren oder Eltern von US-Staatsangehörigen sein. Je näher die Person mit einem im Verwandtschaftsverhältnis steht, desto größer die Chance auf einen Aufenthaltstitel und desto schneller bekommt man ihn. Weiter entfernte Familienmitglieder müssen sich oftmals auf jahrelange Wartezeiten einstellen.

Die zweite Option bietet ein Arbeitsplatz beziehungsweise ein Arbeitsangebot eines US-Arbeitgebers. Ein solches Arbeitsangebot kann ausnahmsweise entbehrlich sein, wenn es ein großes nationales Interesse an einem gibt oder weil man außerordentliche Qualifikationen für eine bestimmte Tätigkeit aufweisen kann. 

Die dritte Möglichkeit der Einwanderung besteht durch Investition, wobei da gilt: Je mehr Geld man mitbringt und zu investieren bereit ist, desto größer stehen die Chancen. Als Richtwert gelten mindestens 100.000 US-Dollar.

Und die vierte Chance bietet sich durch die Greencard-Lotterie, bei der weltweit 55.000 Greencards pro Jahr verlost werden, allein 3.500 fallen auf Deutschland.

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In Deutschland werden die USA als sehr stark gespalten wahrgenommen – teilweise sogar rückständig. Das betrifft das Justizsystem, das Wahlsystem und auch das Recht auf Waffen. Gleichzeitig kommen die derzeit wichtigsten technischen und vor allem digitalen Innovationen nach wie vor aus den USA. Ist die Wahrnehmung der Deutschen richtig oder verzerrt?

Scarcia-Scheel: Weder noch. Die USA sind ein Land der Gegensätze. Diese können mitunter beträchtlich sein. Einerseits ist dieses Land unglaublich fortschrittlich, andererseits sehr rückständig. Letzteres gilt insbesondere für ländliche Regionen, bei denen ein Besuch wie eine Zeitreise in die Vergangenheit anmuten kann. Auf der anderen Seite gibt es moderne zukunftsweisende Städte wie New York. Diese Gegensätze zeigen sich auch in dem großen Gefälle von Reichtum und Armut.

„Möglicherweise fühlen wir Deutsche uns den Amerikanern näher, als wir sind.“

Ob die USA eher fort oder rückständig sind, kann ich nur als Laie beantworten. Natürlich sind sie nicht mehr diese uneingeschränkte Wirtschaftsmacht wie vor 40 Jahren, China hat aufgeholt, aber die USA steht immer noch an der Weltspitze. Es kommen immer noch viele technische Innovationen aus den USA.

Was das Thema Waffen angeht, ist die Argumentation vieler Amerikaner schon etwas speziell: Man wird kein Restaurant ausrauben, in dem sich Menschen befinden, die ihrerseits bewaffnet sind.

Möglicherweise fühlen wir Deutsche uns den Amerikanern näher, als wir sind. Die kulturellen Unterschiede zwischen Deutschland und den USA sind jedoch gewaltig. Wir dürfen auch nicht vergessen, dass es die USA noch nicht so lange gibt wie Deutschland. Man muss sich das so vorstellen: Die USA sind ein 25 -Jähriger, der noch viel erleben will, Karriere machen möchte und auf Risiko geht. Deutschland ist eher eine erfahrene 55-Jährige, die vieles mit Bedacht und Rationalität angeht. Kurzum: Die Präferenzen sind unterschiedlich.

Was würden Sie Personen raten, die es in die USA zieht und die dort sesshaft werden wollen?

Scarcia-Scheel: Das mitunter Wichtigste sind finanzielle Rücklagen, die man haben sollte, denn die USA sind sehr teuer. Insbesondere in den Ballungsgebieten ist alles gefühlt mindestens drei Mal so teuer wie etwa in Deutschland. Dies gilt insbesondere für Manhattan.

Zudem rate ich dazu, die amerikanische Freundlichkeit nicht zu missverstehen oder überzubewerten. Für gewöhnlich sind die Menschen nicht an tiefgehenden Freundschaften interessiert. Man sollte das Interesse an der eigenen Person also nicht fehlinterpretieren. Man selbst sollte nicht zu authentisch auftreten, nicht zu direkt sein oder mit seinem Innenleben hausieren. Will man Kritik äußern, so sollte man diese möglichst umschreiben.

Mann sollte sich auch vergegenwärtigen, dass die Arbeitswelt völlig anders ist als in Deutschland. Es herrscht ein deutlich anderes Arbeitsklima. So sind etwa die Arbeitsbedingungen weniger arbeitnehmerfreundlich. Hier herrscht die „hire and fire“ Mentalität, es gibt also keinen ausgeprägten Kündigungsschutz, keine Jobsicherheit. Auch hat man hier weniger Erholungsurlaub, ein bezahlter Erholungsurlaub muss sogar ausgehandelt werden. Auch das verbriefte Recht auf Mittagspausen und so weiter gibt es nicht in der Form, wie wir es aus Deutschland kennen.

Und es gibt ganz andere gesellschaftliche Gepflogenheiten beispielsweise in puncto Konsum, die den Deutschen eher widerstreben. Beispielsweise sollte man sich eine Kredithistorie aufbauen, also öfter Mal Dinge „auf Pump“ finanzieren. Denn um zum Beispiel ein Darlehen für ein Haus zu bekommen, benötigt man eine Kreditwürdigkeit, die hier aber erst entsteht, wenn man viel auf Kredit gekauft hat.

Viele wissen auch nicht, dass Trinkgeld eine große Rolle spielt. Will man im Service-Alltag gut bestehen, sollte man immer mindestens 10 bis 20 Prozent Trinkgeld geben – unabhängig von der Höhe der Rechnung.

Und man braucht zwingend ein Auto, wenn man nicht mitten in einer Großstadt lebt, denn es gibt kein ÖPNV-Angebot, wie wir es aus Europa kennen.

INTERVIEW AdobeStock 220383845© eyetronic, AdobeStock

„Wer dauerhaft in den USA leben möchte, sollte eine Kredithistorie aufbauen.“

Trotz dieser Unterschiede, die von Deutschen vielleicht als nachteilig empfunden werden, habe ich den Eindruck, dass die Amerikaner die Dinge des alltäglichen Lebens viel besser meistern als die Deutschen. Sie sind im Umgang entspannter und freundlicher. Hingegen machen sich die Deutschen das Leben oftmals gegenseitig schwer und werfen sich zu oft unnötigerweise Knüppel zwischen die Beine.

Dafür sind die Deutschen mit ihren Gefühlen aber auch viel tiefer, Freundschaften können ein Leben lang halten. In den USA geht das nicht so sehr in die Tiefe, dafür sind die Menschen wahrscheinlich zu individualistisch. 

Über den Autor

Paul Scarcia-Scheel ist Rechtsanwalt. Er ist auf deutsch-amerikanische Rechtsfälle spezialisiert und ist einer der wenigen Juristen weltweit, der in Deutschland, USA und in Australien zur Zulassung zur Rechtsanwaltschaft qualifiziert ist.

Er lebt in New York City. Auf folgende Rechtgebiete ist der Deutsch-Amerikaner spezialisiert:

  • US-Wirtschaftsrecht
  • US-Visumrecht
  • US-Staatsanghörigkeitsrecht
  • Deutsch-Amerikanisches Erbrecht

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Dieser Beitrag stammt aus der Ausgabe Juni 2023 des Journals "Leben und Arbeiten im Ausland".

Das Journal erscheint monatlich kostenlos mit vielen informativen Beiträgen zu Auslandsthemen.

Herausgegeben wird es vom BDAE, dem Experten für die Absicherung im Ausland.