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Interview

„Wer Karriere machen will, riskiert seine Lebensträume so lange vor sich herzuschieben, bis irgendwann die Energie dafür fehlt.“

Claudio Sieber tauschte das eng getaktete Leben in der Schweiz gegen die Gelassenheit Asiens. © Claudio Sieber

Claudio Sieber hat sein geregeltes Leben in der Schweiz hinter sich gelassen, ist um die Welt gereist und war lange in Südostasien unterwegs. Seine Reiseerlebnisse hat er in seinem Buch „Gestrandet im Paradies“ festgehalten. Im Interview erzählt er uns unter anderem, wie er seinen Ausstieg aus der Schweizer Gesellschaft bewältigt hat, was ihn das Reisen gelehrt hat und warum Siargao auf den Philippinen seine neue Heimat wurde.

Ein Leben in der Schweiz, mit einem Job als Marketing- und Verkaufsprofi, das klingt ja erstmal gar nicht so schlecht. Was führte dazu, all dies aufzugeben und Freunde und Familie zurück zu lassen?

Claudio: Es war zweifelsohne eine aufregende Zeit, die ich nicht missen will. Das Problem mit Erfolg, aber auch Routine ist halt, dass man gar nicht mitbekommt, wie die Jahre ins Land ziehen. Diese Lebensepisode war mitunter ein wichtiger Teil vom Mosaik. Ohne jene frühe Berufskarriere hätte ich weder die nötigen Ersparnisse zusammengekratzt, noch hätte ich die Mechanismen unserer Leistungsgesellschaft durchschaut. In der Schweiz sind wir ja tadellos organisiert, strebsam und effizient, dafür leidet zu oft die Muße. Weniger arbeiten kannst du dir ab einer gewissen Position sowieso abschminken. Also auf geradlinigem Kurs in Richtung Pensionsalter? Glücklicherweise hatte ich rechtzeitig geblickt, dass ich so per Autopilot durch mein Leben jagen würde. Das gesellschaftliche Korsett in der Schweiz war mir einfach zu festgeschnürt. Zeitgleich sehnte ich mich nach mehr Abenteuer, mehr Chaos, mehr Sonderbarem, aber vor allem mehr Zeit, um mir die verschiedensten Facetten dieser Welt anzuschauen. Eines ist klar: wer Karriere machen will, riskiert seine Lebensträume so lange vor sich herzuschieben, bis irgendwann die Energie dafür fehlt.

Meine Mutter, und auch meine Freunde haben akzeptiert, dass ich mehr beziehungsweise etwas anderes vom Leben wollte. Freunde hat man fürs Leben, sagen wir doch, auch wenn ich meine Freundschaften die letzten Jahre nicht sonderlich hegen konnte, erlebte ich bei den jüngsten Zusammenkünften dieselbe emotionale Bindung, als hätte ich der Schweiz nie abgeschworen. Mit Ü-30 fallen magische Entscheidungen an – aus vielen meiner engsten Freunde wurden mittlerweile verantwortungsbewusste Eltern, aus mir wiederum ein weltbewusster Kinderloser. Unsere Erlebnisberichte versetzen jeweils beide Parteien in Staunen.

Gab es eine Art Reiseplan oder Fahrplan für den Ausstieg?

Claudio: Meine Aussteigergeschichte ist eigentlich sehr schweizerisch. Der Ausstieg war von langer Hand geplant, und zwar satte 7 Jahre vor Abreise. Nur so konnte ich das notwendige finanzielle Polster zusammensparen. Das gab mir die Sicherheit, dass ich bestimmt für drei bis vier Jahre sorgenfrei unterwegs sein kann. Mein damaliger Sparplan sah vor, in eine steuergünstige Gemeinde zu ziehen und weniger verschwenderisch zu leben. Also nur noch ein Kaffee pro Tag, nur noch Leitungswasser trinken, selbst kochen, kaum mehr neue Kleidung, weniger Weggehen und so weiter und so fort. Ein minimalistischer Lebensstil eben. Für die ersten zwei Reisejahre (Südamerika, USA, Japan, Südkorea China und Indien) hatte ich einen groben Reiseroutenplan.

In Nepal wurde mir aber aus verschiedenen Gründen bewusst, dass ich einen neuen Kurs einschlagen will und höchstwahrscheinlich nicht mehr in die Schweiz zurückkehre. Daher beginnt das Buch auch in Nepal, gleichbedeutend mit meinem neuen Lebenskapitel.

INTERVIEW Nepal Monsoon Season Annapurna Circuit 116Unvergleichbares Panorama bei Jamson nach dem Abstieg vom Thorong-La-Pass (Annapurna-Gebirgskette) im nepalesischen Himalaya. © Claudio Sieber

Hattest du Bedenken, alles hinter dir zu lassen?

Claudio: Für meine ersten 30 Lebensjahre war die Schweiz das ideale Nest. Dieser wunderschönen und tadellos organisierten Heimat abzuschwören, brauchte schon etwas Courage. Das hat vor allem damit zu tun, dass man sich von den vertrauten Gewohnheiten und den stützenden Mitmenschen verabschiedet. Dann plötzlich steht alles auf dem Kopf. Keine Struktur mehr, das Gefühl von Sicherheit schwindet zunehmend, man fühlt sich entwurzelt. Darauf folgt bestenfalls Euphorie, weil man nach und nach realisiert, dass es auch anders geht.

Was findest du wichtig zu beachten, wenn man alle Zelte abbricht und in die Welt zieht?

Claudio: Sich von einem Land, dem Beruf, und dem Umfeld langfristig zu lösen braucht viel Energie. Dafür gingen einige Lebenstage drauf. Der Ausstieg sollte unbedingt sorgfältig geplant werden, das zahlt sich später wieder aus.

Reisen ist schön, hat aber auch seinen Preis. Irgendwann kam sicher der Moment, als dein finanzielles Polster zuneige ging. Welche Rolle spielt der Faktor Geld für dich?

Claudio: Geld ist gleichbedeutend mit Sicherheit, aber auch ein Schlüssel, um die Türe zum Unbekannten aufzustoßen. Anstatt noch mehr Schrott anzuhäufen, schätze ich mich glücklich, mein Geld in Orten (Läden, Unterkünfte et cetera) auszugeben, wo die Menschen weniger haben. Nenne ich gegenüber den Asiaten die Schweiz, fallen die Kiefer. „So viel natürliche Schönheit gepaart mit menschlichem Drang zur Perfektion und Wohlstand. Wow, hast du ein Glück.“ So träumt Asien von der Schweiz, genau gleich wie wir das exotische Asien für uns romantisieren. Die Schweiz ist tadellos organisiert, imponiert mit wirtschaftlicher Stabilität, direkter Demokratie und kultureller Diversität auf engstem Raum. Alles jedoch einen Hauch zu perfekt für meinen Geschmack. Nicht zuletzt führte uns der Perfektionismus zu mehr Wohlstand, aber nicht zwingend zu mehr Wohlbefinden. In weiten Teilen Asiens leben die Menschen (gezwungenermaßen) mehr im Jetzt, lächeln öfters und sind mit bedeutend weniger zufrieden. Das beschwingt mein Gemüt tagein tagaus.

INTERVIEW Chidwin River 227Auf dem Chidwin-Fluss mit dem Holzboot Richtung Andamanensee. © Claudio Sieber

„Bei meiner Art des Reisens ist es so, dass ich mein Schicksal oft in die Hände von Fremden lege und schaue, was dann passiert.“

In den Jahren deines Umherreisens zog es dich auch auf den amerikanischen und südamerikanischen Kontinent sowie östlich des asiatischen Festlandes nach Japan und Südkorea. Was ist das Besondere an Asien/Südostasien für dich?

Claudio: An Asien/Südostasien begeistert mich vor allem die Vielfalt. Die Kultur, das Essen, die Landschaften und auch die Leute unterscheiden sich von Land zu Land. Was die Menschen aber alle gemeinsam haben ist ihre Gastfreundschaft. In Asien werden auch Fremde meistens praktisch überall mit Respekt behandelt, man begegnet einander mit einem Lächeln. Hier sind Spiritualität sowie ursprüngliche Traditionen noch ganz nah erlebbar. Nur schon das faszinierte mich. Salopp gesagt wollte ich Abenteuer mit kulturellen Highlights kombinieren. Es war mir ganz wichtig, die Länder Südostasiens so langsam wie nur möglich zu bereisen – neuerdings gibt es ja sogar einen Begriff dafür: „Slow Travel“. Also kein Reiseführer, keine Reisegruppen, nur Transportmittel, die auch Einheimische nutzen, und so nah wie möglich an die Menschen ran. Dabei wusste ich natürlich nie, wie mein Tag enden wird oder bei wem ich die Nacht verbringen würde. So ergeben sich faszinierende Begegnungen und Geschichten ganz von selbst. Bei meiner Art des Reisens ist es so, dass ich mein Schicksal oft in die Hände von Fremden lege und schaue, was dann passiert. Darauf habe ich sehr oft unverfälschte Gastfreundschaft erlebt. Ich war zum Beispiel per Autostopp in Malaysia unterwegs. Einer der Fahrer, der angehalten hatte, hat mir nach fünf Minuten im Auto erzählt, dass er morgen heiratet und mich kurzerhand zu seiner Hochzeit eingeladen.

INTERVIEW Vietnam Bac Ha 9 2Ein voll beladenes Motorrad, der Blumenexpress. Sonntags mutiert die Kleinstadt Bac Ha in der Provinz Lào Cai im Nordosten Vietnams zu einem Markt. © Claudio SieberSüdostasien ist im konstanten Umbruch, Reisende aus Ländern wie der Schweiz und Deutschland können hier noch hautnah Entwicklung erleben. Pensionskassen und Pensionierung sind praktisch inexistent, die wenigsten vertrauen dem eigenen Staat, Familienwerte und das eigene Wohlbefinden stehen daher im Mittelpunkt. Fremde dürfen in Südostasien trotz allen Herausforderungen der Einheimischen, eine unglaubliche Leichtigkeit wahrnehmen. Es ist einfach so, dass einem die meisten Menschen freundlich gesinnt sind und einem helfen wollen. Das unterschätzt man gerne. (lacht)

Gab es ein Land, dass du besonders herausfordernd fandest oder eine Situation?

Claudio: Grosso modo erlebt der moderne Nomade wechselweise Zuckerbrot und Peitsche. Ich habe es mir außerdem nie einfach gemacht, somit waren alle Destinationen herausfordernd. Weder konnte ich vor meiner Abreise Motorradfahren noch Pferde reiten. Das alles kann man aber in Asien im Nu erlernen. Auch per Anhalter war ich früher nie unterwegs. Selbst Holzboote sind erschwinglich und können später ja wieder verkauft werden. Zudem gefiel mir aber auch der Gedanke, nicht zu wissen, wo ich am Ende des Tages stranden werde. Es war an der Zeit neue Erfahrungen zu sammeln. Mir war wichtig, so zu reisen wie es die Einheimischen tun. Die Mobilität in Fernost ist lange nicht auf dem Niveau wie vielerorts in Europa. Der Roller beispielsweise ist nach wie vor eines der wichtigsten Fortbewegungsmittel. Das wiederum bedeutet, dass man mit einem eigenen (oder geliehenen) Motorrad nahe beim Volk ist. Die Locals schätzen es ungemein, dass man sich Zeit für ihre Heimat nimmt, das wird permanent mit Goodwill quittiert.

Hattest du zwischenzeitlich Fernweh „nach Hause“?

Claudio: Auf jeden Fall. Nach drei Nomadenjahren zog es mich bereits für eine Reisepause in die alte Heimat. Und nach weiteren fünf Jahren Schweiz-Entzug wurde mir beim Gedanken, wieder vorbeizuschauen, ganz warm ums Herz. Letzten Sommer hat es dann geklappt. Endlich wieder mal meine Mutter umarmen, mit Freunden die Nächte durchlachen, dazu pünktliche Verkehrsmittel, Alpenluft, verschwenderische Käsetheken und talentierte Bäcker. Nach so vielen Jahren in Südostasien kommt ein Besuch in der Schweiz aber auch einem Kulturschock nahe, alles ist so perfekt und die Schnelllebigkeit ist deutlich spürbar.

„Die Welt ist nicht so gefährlich wie sie scheint, oder wie uns die Medien glauben machen wollen.“

Gab es den Moment, wo du das Abenteuer abbrechen wolltest?

Claudio: Natürlich gab Momente als ich dachte: Jetzt habe ich die Nase voll! Zum Beispiel im nepalesischen Gebirge, wo ich aufgrund meiner Naivität fast draufging, oder während dem Monsun in Kambodscha, als es während 400 Motorrad-Kilometern pausenlos geregnet hat. Oder bei Erkrankungen wie in Papua-Neuguinea als mich die Malaria erwischte. Beim Langzeitreisen geht es ja auch gerade um dieses Auf und Ab, darum, verschiedenste Emotionen (auch die negativen) zu erleben und daraus etwas über sich selber und die Mitmenschen zu lernen.

„Unter ‘langfristigem Glück‘ verstehe ich persönlich ein erfüllendes Leben.“

Was ist das Entscheidendste, dass du für dich gelernt hast auf Reisen?

Claudio: Glücklich zu sein, bedeutet ja nicht zwangsweise, dass man konstant gut drauf ist. Es gilt zwischen kurzfristigem und langfristigem Glück zu unterscheiden. Was die flüchtigen Freuden anbelangt, dort wo der Botenstoff Dopamin die Fäden zieht, reicht mir eine gute Welle, ein tiefgründiges Gespräch oder die Zuversicht, dass ich den Rest meines Lebens wahrscheinlich in Badehose und Flipflops verbringen darf (ja, quasi unser Insel-Dresscode). 

Dazu musste ich aber zuerst dem Treibsand der Routine entkommen. Mein „well-being“, so hat mich der Abschied von der rigorosen Leistungsgesellschaft belehrt, ist die Freiheit, selbst über meine Zeit bestimmen zu können – die Flexibilität zu entscheiden, wann ich wie was tun möchte, wann aufstehen, wann die Dinge unerledigt lassen. Ganz ehrlich, ich konnte Order und Wecker noch nie leiden. Außerdem will ich mich laufend neu erfinden, um so das eh schon kurze Leben vollends auskosten zu können. Das, in Kombination mit körperlicher Gesundheit, einer starken Community, finanzieller Sicherheit, macht mich nachhaltig glücklich.

INTERVIEW Vietnam Cao Bang Province 103Claudio mit seinem unzuverlässigen Gefährten „Frankenstein“ in der Provinz Cao Bằng in Vietnam. © Claudio Sieber

2018 bist du in Siargao auf den Philippinen zu Hause. Warum gerade diese Insel und insbesondere der Ort?

Claudio: Hhmmm, so ganz oberflächlich betrachtet, weil eine Bleibe in Strandnähe einfach Hammer ist und mir all die Kokosnusspalmen konstant Urlaubsgefühle vermitteln (auch wenn sie uns vor knapp einem Jahr um die Ohren geflogen sind). Hier kann ich kosteneffizient ein Leben im Einklang mit der Natur führen, mit Plankton und Glühwürmchen vor der Haustür, sowie den warmherzigsten Menschen Asiens. Interessanterweise waren die Philippinen meine letzte Reisedestination in Fernost. Hätte ich mich hier nicht niedergelassen, wäre ich wohl irgendwann in Sansibar gelandet. Auf der Surf-Insel Siargao wollte ich mir dann Gedanken über meine Zukunft machen. Eine einwöchige Reisepause war geplant, einen Monat lang blieb ich stecken. Hier hatte ich ganz viele interessante Menschen innerhalb kürzester Zeit kennengelernt, Einheimische und Aussteiger. Sie sind schnell zu Freunden geworden, vor allem weil wir den gleichen Anspruch ans Leben haben. Dann kam die Pandemie und ich musste mich entscheiden; verlasse ich dieses Idyll, komme ich mit meinem Touristenvisum wahrscheinlich nicht so bald wieder ins Land. Bleibe ich, schlage ich wohl neue Wurzeln.

Es ist schon ironisch, denn das Eiland hat viel mit meinem Heimatort St. Gallen gemein. Jeder kennt sich und weiß, was der andere tut. Nur wachsen hier statt Apfelbäumen Palmen, man ist es umzingelt von Wasser statt Hügeln und Familien fahren hier zu viert auf dem Motorrad statt im Kombi herum.

INTERVIEW Malaysia Sarawak Rajang River 39Auf dem Deck entlang des Rajang Flusses im malaysischen Bundesstaat Sarawak. © Claudio Sieber

Womit vertreibt man sich im Paradies den Tag?

Claudio: Einen Alltag gibt es eigentlich nicht. Ob morgen Montag oder Freitag ist, könnte mich nicht weniger interessieren. Abgesehen vom morgendlichen Kaffee und den Visa-Runs habe ich jegliche Routinen abgeschafft.

„Ein unberechenbarer Tag ist ein guter Tag.“

Und Siargao beschert mir täglich eine gute Portion „Unberechenbarkeit“, denn hier ist auf nichts und niemanden Verlass. Aber so ganz generell gehe ich oft surfen, cruise mit meinem Paddle-Board durch die Mangrovenwälder oder mit dem Fahrrad durch die Dschungelstraßen. Unsere Community hier ist einzigartig, und wir haben Zeit füreinander. Somit treffe ich mich fast täglich mit Freunden.

Wie bestreitest du deinen Lebensunterhalt?

Claudio: Bereits nach zwei Reisejahren hatte ich mir überlegt, wie es weitergehen kann, so ganz ohne einen festen Job an einem Ort. Dann habe ich mein Talent für Fotografie weiterentwickelt, eine Website gebaut, und Visitenkarten gedruckt (ja, vor sieben Jahren war das noch wichtig). Darauf stand dann ganz offiziell: „Fotograf“. Nach einer Weile kam der Stein endlich ins Rollen. Allerdings kann man davon nicht in Saus und Braus leben. Aber es genügt, wenn man in Asien verweilt und für Europa arbeitet. Mittlerweile passt die Beschreibung „Fotojournalist“ besser, weil ich selbstständig recherchiere und auch die Texte schreibe. Und nachdem ich einen Dokumentarfilm über Taiwan für ARTE realisieren durfte, nenne ich mich hin und wieder sogar „Regisseur“ (vor allem, wenn ich mich wichtig machen will).

Wieso ich mich selbstständig gemacht habe im brotlosen visuellen Journalismus? Ganz einfach: es ist einer der faszinierendsten Berufe überhaupt und eine universelle Kunstform, die jeden verführen kann. Ich darf fremde Orte bereisen und in die Kultur verschiedenster Menschen eintauchen. Dieses neu erlernte Wissen mit anderen zu teilen, ist für mich eine der größten Weihen.

Wie bekommt man die Erlaubnis eines dauerhaften Aufenthaltes auf der Insel?

Claudio: Touristen aus diversen Teilen Europas dürfen in den Philippinen nach dem ersten Monat ihr Visum laufend verlängern, bis maximal 3 Jahre. Aber es gibt auch andere Möglichkeiten, wie beispielsweise ein Business-Visum, ein Ruhestand-Visum, ein Investor-Visum, oder natürlich Heirat. (lacht)

Touristisch ist die Insel sicherlich gut besucht. Wird man da nicht müde ständig Leute kennenzulernen, die man dann früher oder später wieder verabschiedet?

Claudio: Das ist korrekt. Wir sind hier mittlerweile wieder auf dem Stand von vor der Pandemie. Und die Anzahl neuer Unterkünfte, Restaurants et cetera ist kaum mehr überschaubar. Täglich neue interessante Menschen aus aller Welt kennenlernen zu dürfen (sofern man mag), ist doch super! Innerhalb von wenigen Jahren habe ich in Siargao einen wunderbaren Freundeskreis aufgebaut. Viele Freundschaften sind während der Pandemie und durch Supertaifun nur noch stärker geworden. Trotz der außerordentlichen Harmonie ist uns allen wohlbewusst, dass wir uns laufend verändern und uns die Insel eines Tages vielleicht nicht mehr das bietet, was wir einst gebraucht haben.

„Intensivere Freundschaften pflege ich eher mit Menschen, die einen ähnlichen Hintergrund haben.“

Lassen sich in Siargao Freundschaften mit den Einheimischen knüpfen und wenn ja, wie intensiv sind diese?

Claudio: Die Filipinos sind überaus gastfreundlich und lassen uns Teil von ihrem Leben sein, sofern wir das auch wollen. Ich habe in der Tat einige Freunde von der Insel, doch spüre ich oft eine gewisse Distanz. Das hat vor allem damit zu tun, dass Siargao eine Provinz ist, und die Menschen hier ein einfacheres, ja bescheideneres Leben führen. Es gibt große Unterschiede, ob jemand in einer Metropole wie Manila, Cebu, Davao oder Cagayan de Oro geboren wurde und dann eines Tages das Provinzleben aufgrund der besseren Lebensqualität bevorzugt.

INTERVIEW Siargao Conbook Selection 19Seine neue Heimat, die Insel Siargao im Osten der Philippinen. Dolce vita während der Pandemie. © Claudio Sieber

Und gibt es noch Freundschaften in der Schweiz, die du pflegst? Ist das überhaupt möglich auf diese Distanz?

Claudio: „Pflegen“ ist wahrscheinlich nicht das richtige Wort. Wir sprechen oder schreiben hin und wieder. Viel wichtiger ist die Gewissheit, dass ein Besuch in der Schweiz mit Zeit, und ein Problem mit Beistand quittiert wird.

Man weiß ja im Leben nie, was als Nächstes kommt. Ist eine Rückkehr in die Schweiz für dich denkbar?

Claudio: Jeder Langzeitreisende muss sich irgendwann wieder in einer Community integrieren, sonst wird man (so wage ich zu behaupten) irgendwie komisch. Dass ich meine neue Basis jedoch auf der anderen Seite der Welt auf einer kleinen Tropeninsel etabliere, das war schon eher unvorhersehbar. Leider könnte ich mir mit meiner neuen Berufung die Schweizer Fixkosten nicht leisten. Da müsste ich mich komplett umorientieren, und wieder anfangen den Wecker zu stellen. Mir gefällt es außerordentlich gut, Herr meiner eigenen Zeit zu sein und an einem Ort zu leben, wo andere Ferien machen wollen… Und das gebe ich nicht so schnell wieder auf. 

Ganz ehrlich, ich weiß nicht einmal, was ich nächste Woche genau machen werde. Und so nebenbei, hätte man vor 10 Jahren gefragt, wie ich meine Zukunft heute sehe, dann hätte ich niemals auf eine neue Heimat in einem der verwundbarsten Länder der Welt getippt. Das Inslein Siargao ist und bleibt auf längere Zeit meine Basis, so viel steht fest. Es war mir aber bereits während dem Hausbau klar, dass ich trotz meinem kleinen Paradies hier, weder die Reisesegel zusammenpacken, noch meine noch junge Berufung aufgeben will. Ein neues Langzeitprojekt habe ich bereits in der Mache. Zu weit vorausplanen wird sich kaum auszahlen, in 5 Jahren macht Künstliche Intelligenz wahrscheinlich eh meinen Lebensunterhalt streitig und ich werde Landschaftsgärtner oder Online-Lebensberater. Wer weiß das schon. 

Buchinformationen

Gestrandet im Paradies.
Wie ich sechs Jahre als Nomade durch Asien zog und meine Heimat auf einer Tropeninsel fand

Claudio Sieber

Verlag: CONBOOK
ISBN: 978-3-95889-433-4
288 Seiten, € 19,95
Erschienen: Oktober 2022

INTERVIEW sieber claudio high

Über den Autor

Mittlerweile sind sieben Schweizer Sommer vergangen, seit der 40-jährige Claudio Sieber seine Heimat und die Karriere gegen eine ihm märchenfremde Welt eingetauscht hat. Sein Ausbruch entpuppte sich als triumphaler Sieg gegen Routine, Komfort und Spießertum. Anno 2022 blickt er zurück auf Reiserouten weit abseits vom „Banana-Pancake-Trail (und von Insta-Fetischisten propagierten Destinationen). Während seiner Vagabundenzeit hat er die Länder nicht abgehakt, sondern ausgekostet. Dabei hat er sich stets auf jeden Fremden eingelassen, von dem er etwas Neues lernen konnte. Während der Pandemie ist Claudio in Siargao auf den Philippinen gestrandet.

Dieser Beitrag stammt aus der Ausgabe Mai 2023 des Journals "Leben und Arbeiten im Ausland".

Das Journal erscheint monatlich kostenlos mit vielen informativen Beiträgen zu Auslandsthemen.

Herausgegeben wird es vom BDAE, dem Experten für die Absicherung im Ausland.