Haben Introvertierte weniger Chancen für eine Auslandsentsendung?
Gastbeitrag von Mareike Lott
„Zu schüchtern, leise, vorsichtig oder distanziert...“ Viele Introvertierte hören diese Worte oft ihr ganzes Leben lang. Schon im Kindesalter versuchen Eltern, ruhigere und vielleicht etwas zurückhaltende Kinder zu ermutigen, sich zu öffnen, lauter zu sprechen, einfach extrovertierter zu sein.
Dabei haben Introvertierte so viel zu bieten und machen einen bedeutenden Teil unserer Gesellschaft aus. Dennoch gibt es eine gesellschaftliche Präferenz für extrovertiertes Verhalten, was es Introvertierten in alltäglichen Situationen erschweren kann, befördert oder mit der Leitung großer Teams beauftragt, geschweige denn ins Ausland entsendet zu werden.
In diesem Artikel möchte ich Ihnen zeigen, welche Stärken Introvertierte haben, warum sie eine hervorragende Wahl für einen Einsatz im Ausland sein können, und praktische Tipps geben, wie Sie introvertierte Teammitglieder in einem extrovertierten Umfeld fördern können.
Introversion in der Gesellschaft und im Arbeitsumfeld
Zunächst einmal ist Introvertiertheit ein normaler, gesunder Teil der Persönlichkeit und des Temperaments, und es besteht für Introvertierte sicherlich keine Notwendigkeit, diese grundlegenden Eigenschaften zu ändern oder sich in eine andere Person zu verwandeln. Sie sind die tiefen Denker, die kreativen Köpfe und auch die Innovatoren unserer Gesellschaft. Aber leider sind viele Menschen und moderne Arbeitsplätze eher auf Extrovertierte ausgerichtet. Zwischen aufwändigen PowerPoint-Präsentationen, großen Firmen- und Teamevents, Präsentationen und Open-Space-Büros ohne Wände fühlen sich Introvertierte oft überfordert. Darüber hinaus schätzen unsere Gesellschaft und viele Arbeitgeber Mitarbeiter, die sich in Meetings zu Wort melden, Ideen in Brainstorming-Sitzungen laut vorbringen und diejenigen, die mit Leichtigkeit vor Gruppen sprechen und präsentieren können.
Trotz dieser gesellschaftlichen Präferenz für Extrovertiertheit machen Introvertierte 30 bis 50 Prozent unserer Bevölkerung aus. Daher ist es wichtig, Introvertiertheit zu verstehen, um unbewusste Vorurteile zu vermeiden und Introvertierte gleichzeitig im Arbeitsumfeld optimal zu unterstützen.
Unterschiede zwischen Introvertiertheit und Extrovertiertheit
Zunächst einmal sind Intro- und Extrovertiertheit unterschiedliche Eigenschaften von Charakter und Temperament. Die beiden „Extreme“ befinden sich an entgegengesetzten Enden eines Spektrums mit „ambivers“ in der Mitte. Natürlich gibt es nicht nur den Intro- oder Extrovertierten, sondern es gibt auch unterschiedlich starke Ausprägungen. Von Menschen, die hin und wieder soziale Kontakte und Veranstaltungen brauchen, bis hin zu Menschen, die sich lieber komplett zurückziehen, ist alles möglich und vor allem normal.
Der Unterschied zwischen den beiden liegt darin, woraus sie ihre Energie beziehen und wie sie sie abgeben. Introvertierte verbrauchen Energie, indem sie mit anderen zusammen sind. Die Geselligkeit mit anderen Menschen erschöpft ihre mentalen Batterien und sie können sich nur „aufladen“, wenn sie alleine oder mit engen Freunden oder der Familie sind. Extrovertierte erleben hier genau das Gegenteil: Nähe zu anderen lädt ihre Batterien auf und Einsamkeit zehrt an ihnen. Darüber hinaus reagieren die Gehirne von Introvertierten empfindlicher auf Dopamin, was dazu führt, dass sie weniger Risiken eingehen oder intensive Erfahrungen wie laute Geräusche, helle Lichter, Achterbahnen oder ähnliches meiden.
Die Stärken von Introvertierten und Tipps für den Umgang
Dank ihrer Intelligenz, ihrer Kreativität und ihres Innovationssinns gibt es viele starke introvertierte Führungspersönlichkeiten, die es weit gebracht haben: Steve Jobs, Eleanor Roosevelt, Bill Gates und Albert Einstein gehören zu den eher introvertierten Menschen. Menschen mit introvertierten Charakterzügen haben also viele wunderbare Stärken, die manchmal übersehen werden. Leider wissen viele Teamleiter nicht, wie man Introvertierte am besten führt, damit sie sich weiter entwickeln können. Ebenso wichtig ist es, dass nicht nur die Teamleitung, sondern das gesamte Team für die optimale Zusammenarbeit sensibilisiert wird. Introvertierte und extrovertierte Charaktere sind sehr unterschiedlich und müssen reibungslos zusammenarbeiten, ohne sich gekränkt zu fühlen. Zusätzlich kommt es bei einer Entsendung ins Ausland nicht nur auf die fachlichen Kompetenzen an, sondern auch auf die Soft Skills, denn das entscheidet mit, ob die Entsendung ein Erfolg oder frühzeitig abgebrochen wird.
„Unsere Kultur ist gegen ruhige und zurückhaltende Menschen voreingenommen, aber Introvertierte sind für einige der größten Errungenschaften der Menschheit verantwortlich.“ Susan Cain
Übersicht einiger herausragender Stärken von Introvertierten
1. Qualität: Introvertierte schwatzen nicht einfach drauf los und teilen lautstark ihre Meinung. Sie wählen ihre Worte bewusst und legen großen Wert auf die Qualität und Bedeutung dessen, was sie sagen. Sie denken zuerst nach und untersuchen die Probleme analytisch. Wenn sie dann sprechen, hat der Inhalt auf jeden Fall Substanz und es lohnt sich zuzuhören. Eine Stärke, die besonders auch bei einer Entsendung helfen kann, sich schnell ein gutes Standing im neuen Team aufzubauen und mit fundiertem Wissen zu überzeugen.
Tipp für Leader und Teams: Als Chef und Team haben Sie immer die Aufgabe, einen Raum zu schaffen, in dem sich der Introvertierte zu Wort traut. Vielleicht ist es eher am Ende eines Meetings oder nach dem Meeting im Einzelgespräch.
2. Kreativität: Introvertierte stehen ganz vorne, wenn es darum geht, umzudenken und neue Themen zu erfinden. Sie denken viel nach, analysieren und reflektieren. Eine großartige Stärke, wenn es darum geht neue Projekte anzugehen und große Ideen zu entwickeln. Und ist es nicht genau das, was man von Expats erwartet, wenn man sie ins Ausland versetzt hat? Expats sollen durch ihre Erfahrung in anderen Ländern neue Impulse setzen und groß denken. Introvertierte werden hier überzeugen.
Tipp für Leader und Teams: Sorgen Sie dafür, dass die introvertierten Teammitglieder einen Rückzugsort haben, an dem sie ungestört denken und arbeiten können. Ein paar Tage von zu Hause aus zu arbeiten, hilft sicherlich auch.
3. Fokussiert: Introvertierte lassen sich nicht leicht ablenken. Sie können lange und hart an einem Thema arbeiten, bis es abgeschlossen ist. Das kann das gesamte Team motivieren, Projekte trotz der Hektik des Alltags abzuschließen, ob im Heimat- oder im Ausland.
Tipp für Leader und Teams: Als Führungskraft sollten Sie sich bei der Auswahl von Projekten genau überlegen, welche eher zu den introvertierten Teammitgliedern passen könnten, sodass das gesamte Team profitieren kann.
4. Zuhören: Diese Eigenschaft kann leicht abgetan werden, da sich viele Menschen als gute Zuhörer betrachten. Aber die Wahrheit ist, dass es nur sehr wenige gibt, die es wirklich sind. Und die sind vor allem unter Introvertierten zu finden. Viele Menschen hören ihren Gesprächspartnern nur halb zu, während sie sich bereits überlegen, was sie antworten wollen. Sie sind bei sich selbst, nicht bei den Anderen. (Empfehlung: Ein Buch, das meiner Meinung nach jeder lesen sollte, egal ob introvertiert oder extrovertiert, ist „Time to think“ von Nancy Kline).
Introvertierte sind sehr gute Beobachter; Sie nehmen sich die Zeit, alle erhaltenen Informationen zu verarbeiten und aus den Worten und der Körpersprache das Wesentliche herauszufiltern. Das macht sie auch zu hervorragenden Managern, da sie die Stimmungen und Bedürfnisse jedes Einzelnen gut kennen und aufnehmen können. Insbesondere bei einer Auslandsentsendung ist das Zuhören und Lernen über kulturelle Gegebenheiten und den neuen Arbeitsalltag am Anfang essenziell, um in der neuen (Arbeits-) Umgebung erfolgreich zu sein und glücklich zu werden.
Tipp für Leader und Teams: Als Teammitglied und Führungskraft können Sie auch an Ihrem aktiven Zuhören arbeiten, damit Sie wirklich die Botschaften hören, die ankommen müssen. Davon wird ihr gesamtes Team profitieren.
5. Achtsamkeit: Introvertierte überdenken große Entscheidungen und wägen genau ab, wo die Vor- und Nachteile einer Entscheidung liegen. Im Gegensatz zu Extrovertierten, die eher risikoaffin sind, haben Introvertierte ein hohes Sicherheitsbedürfnis. Diese Tendenz, gut durchdachte Entscheidungen zu treffen, macht Introvertierte zu guten Führungskräften. Auch bei einer Entsendung und in der Zusammenarbeit mit einem neuen Team in einem neuen Land ist diese Stärke von Vorteil. Sie werden sich viele verschiedene Meinungen einholen, diese diskutieren und abwägen. Die neuen Kolleginnen, Kollegen und Mitarbeitende fühlen sich gehört, im Entscheidungsprozess mit einbezogen und respektiert. Das hilft mittel und langfristig, ein Vertrauensverhältnis aufzubauen und stärkt den Teamzusammenhalt.
Tipp für Leader und Teams: Abhängig von der Branche, in der Sie tätig sind, können Sie Ihre introvertierten Teammitglieder ermutigen, bei Bedarf manchmal Risiken einzugehen, oder im Gegenteil ihre gründliche Analyse und ihr Wissen zu nutzen, um eine Neubewertung zu erlangen und eine fundierte Entscheidung zu treffen.
6. Analytisches Denken: Recherchieren, analysieren, vergleichen, Strategien entwickeln – all das ist eine große Stärke und Leidenschaft von Introvertierten. Gerade in Situationen, die viel Analyse erfordern und bei unübersichtlichen Themen ist diese Eigenschaft sehr hilfreich und hilft, gute Lösungen zu finden. Es ist perfekt, jemand im Team zu haben, der Spaß an diesen Aufgaben hat. Diese Eigenschaft kann bei einem Auslandseinsatz auch dabei unterstützen, sich schnell einen Marktüberblick zu verschaffen und die lokalen Gegebenheiten besser und vor allem schneller zu verstehen.
Tipp für Leader und Teams: Mischen Sie verschiedene Charaktere für ein Projekt, wodurch ein doppelter Lerneffekt entstehen kann. Der Analyst kann einem großartigen Moderator vielleicht etwas über Statistik und Analysen beibringen und gleichzeitig von ihm etwas über Rhetorik und Bühnenpräsenz lernen.
7. Ruhe: Die Ausstrahlung innerer Ruhe ist ein großes Geschenk von Introvertierten und wirkt positiv und beruhigend auf ihr Umfeld. Im hektischen Alltag wirken sie oft wie ein Ruhepol und können durch ihre ruhige Art auch Gespräche positiv beeinflussen. Beim Kennenlernen eines neuen ausländischen Teams, all den neuen Informationen und Dingen, die zu lernen sind, auch eine wichtige Eigenschaft, um einen nicht gestressten oder überforderten Eindruck zu erwecken.
Tipp für Leader und Teams: Kolleginnen und Kollegen und Teamleitende sollten nur darauf achten, ihre Kollegium nicht zu überlasten, auch brauchen sie hin und wieder Ruhe, um ihre Batterien wieder aufzuladen.
8. Unabhängigkeit: Introvertierte sind gerne allein, ob privat oder bei der Arbeit. Das bedeutet aber auch, dass sie sehr selbstständig sind und ohne ständige Beaufsichtigung gut alleine arbeiten können. Insbesondere bei einem Einsatz im Ausland auch eine wichtige Kompetenz, sich fokussiert einzuarbeiten und so langfristige Erfolgsstrategien zu entwickeln.
Tipp für Leader und Teams: Als Teamleiter müssen sie diesen Freiraum aktiv geben, aber auch anerkennen, dass Introvertierte diesen Freiraum auch ihren Teammitgliedern zugestehen werden und so das Vertrauen gestärkt wird.
Haben Introvertierte weniger Karrierechancen?
Die Antwort lautet leider ja, solange Teamleitende, Teams und extrovertierte Arbeitsumgebungen nicht anfangen umzudenken und Introversion als Stärke, nicht als Schwäche, zu sehen! Introvertierte können hervorragende Leistungsträger und Führungskräfte sein und wie oben aufgeführt mit ihren vielen Stärken und Kompetenzen bei internationalen Einsätzen hervorragende Arbeit leisten. Unternehmen müssen aufhören, in erster Linie extrovertiertes Verhalten zu belohnen, wertzuschätzen und extrovertierte Profile bei Beförderungen oder Auslandseinsätzen zu bevorzugen.
Als guter Teamleitender sollte man zunächst darauf achten, wer im Team vielleicht eher introvertiert ist oder introvertierte Züge aufweist. Der zweite Schritt ist, dies zu akzeptieren und es nicht als Schwäche, sondern als ergänzende Stärke im gesamten Team zu sehen. Nehmen Sie sich Zeit zum Zuhören, zwingen Sie sie nicht dazu, Vollzeit im Team zu arbeiten, sondern geben Sie ihnen den Freiraum, an eigenen Projekten zu arbeiten, geben Sie ihnen Raum, ihre Meinung ohne Druck zu äußern, fördern Sie sie in einem extrovertierten Umfeld. Unterstützung bei der Vorbereitung vor großen Präsentationen und Stärkung des Selbstbewusstseins kann ein gangbarer Weg sein.
Veränderung kann nur geschehen, wenn sich jeder einzelne Teamleitende kritisch hinterfragt und lernt, die introvertierte Arbeitsweise mehr zu schätzen und zu fördern.
Machen Sie ihnen klar, dass Ihre Eigenschaften gut sind, sie sich in ihrer introvertierten Komfortzone wohlfühlen und jederzeit dorthin zurückkehren können, um neue Energie zu tanken. In manchen Momenten müssen sie diese jedoch verlassen, um beispielsweise ihre Meinung zu präsentieren oder zu äußern. Introvertierte müssen das Schritt für Schritt lernen und brauchen Ihre Unterstützung.
Machen Sie es nicht nur zu Ihrer Mission als Teamleitender, sondern involvieren Sie das gesamte Team. Ein Persönlichkeitstest kann Menschen dabei helfen, ihren Stil, ihre Stärken und den Wert, den sie für das Team bringen, zu verstehen. Ihre Teammitglieder verstehen ihre eigenen Kommunikationspräferenzen und die der anderen. So klappt die Kommunikation auf Augenhöhe und die gesamte Zusammenarbeit des Teams wird verbessert.
Weitergehende Empfehlungen
Bücher:
- ‘Time to think‘
by Nancy Kline and Cassell - ‘The Introvert Advantage’
by Marty Olsen Laney - ‘The irresistible introvert’
by Michaela Chung
Ted Talk:
- 'The power of introverts'
Susan Cain
Ziehen Sie sie unbedingt auch für Beförderungen oder internationale Einsätze in Betracht. Mit der richtigen Unterstützung werden Introvertierte großartige und erfolgreiche Führungskräfte abgeben. Denken Sie nicht nur an die vielen fachlichen, sondern auch an die kulturellen Herausforderungen, die eine Entsendung mit sich bringt. Durch ihre Ruhe, Recherche, Analytik und das gute Zuhören sind Introvertierte vielleicht sogar eher in der Lage, sich gut an eine neue Kultur und neue Gegebenheiten anzupassen und langfristig im neuen Land glücklich zu werden. Und das ist doch, was am Ende zählt: Gute und talentierte Menschen zu fördern und an den richtigen Stellen (im Ausland oder Heimatland) einzusetzen, damit das Unternehmen und die Mitarbeitenden von ihrer Entwicklung profitieren.