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Interview

„Mein Leben als Expat in den 70er Jahren in Indien und Thailand war schon ein Luxus“

© Michael Linder

Von 1973 bis 1980 war Michael Linder Repräsentant der deutschen Wirtschaft in den Handelskammer-Niederlassungen in Kalkutta und Bangkok. Im Interview nimmt er uns mit auf eine siebenjährige Reise in die Vergangenheit und lässt uns teilhaben an seinen Erfahrungen in einer Zeit, als ein Expat-Leben nur wenigen vorbehalten war. Dabei berichtet er sehr selbstkritisch und reflektierend von seinen Erfahrungen vor Ort und erläutert, warum ein zu langer Auslandseinsatz karriereschädigend sein kann.

Sie wurden 1973 Leiter der Niederlassung der Deutsch-Indischen Handelskammer in Kalkutta. Hatten Sie vorher bereits einen Bezug zu Indien? Sie sind damals über drei Monate auf den Aufenthalt vorbereitet worden. Wie lief das damals ab?

Linder: Ich hatte zu der Zeit überhaupt keinen Bezug zu Indien, außer der damals üblichen, etwas idealisierten Vorstellung von Land und Leuten, die mit der täglichen Realität der Menschen nichts zu tun hatte. Trotz meiner Unkenntnis über die interkulturellen Besonderheiten habe ich auch keinen Kulturschock oder so etwas in der Art gehabt. Die Gegebenheiten vor Ort, etwa die Armut oder das Kastensystem haben mich nicht schockiert, ich wusste ja, dass ich dort nicht als Entwicklungshelfer hingehe.

„Ich bin 1973 in Indien ins kalte Wasser gesprungen“

Ich fühlte mich aber in fachlicher Hinsicht absolut fit. Es hat außer der Einarbeitung, die ich eher als Höflichkeitsbesuche betrachten würde, bei den diversen Handelskammern in Deutschland und der Schweiz sowie bei verschiedenen Institutionen wie zum Beispiel einem unangenehmen Besuch bei der GTZ (Gesellschaft für technische Zusammenarbeit) in Frankfurt am Main keine interkulturelle Vorbereitung oder ein Training gegeben. Darüber hat sich damals in der deutschen Wirtschaft und Politik kein Mensch Gedanken gemacht. Ich bin sozusagen direkt ins kalte Wasser gesprungen.

Was war das für ein seltsamer Besuch bei der Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit?

Linder: Ich hatte eine Art Hospitation bei der damaligen GTZ, sprich Entwicklungshilfe. Der Empfang war ausgesprochen rüde und unfreundlich. Man fragte mich, was ich hier eigentlich wolle. Man könne mir nichts vermitteln, was für meine Arbeit wichtig wäre. Die haben mich behandelt wie einen "Klassenfeind", weil ich deutsche Wirtschaftsunternehmen im Ausland repräsentierten sollte.  Ich habe dieses arrogante und anmaßende Verhalten nie verstanden. Im Gegensatz dazu habe ich später die Repräsentanten der GTZ bei Entwicklungsprojekten in Thailand stets freundlich unterstützt und ihnen die wichtigsten Kontakte auf der politischen administrativen Ebene vermittelt.

Für meinen Einsatz in Indien hatte mir vor allem meine berufliche Erfahrung geholfen und das Abendstudium internationaler Handel. Nach der Schule hatte ich eine kaufmännische Ausbildung im Import/Export bei dem renommierten Hamburger Kontorhaus Hüpeden & Co. absolviert, später war ich kaufmännischer Angestellter in der Importabteilung der Zentrale des Kaufhauses HERTIE. Von 1970 bis 1972 leitete ich die Importabteilung bei der Firma Olff & Co., die auf die Märkte in Asien und Südostasien spezialisiert war. Diese Erfahrungen und das Studium an der Akademie für Welthandel mit dem Abschluss Außenhandels-Diplom waren meine wichtigsten Lehrjahre für die Posten an den Auslandshandelskammern.

„Meine offene, unbekümmerte Art kam meistens gut an“

Hätten Sie sich denn eine interkulturelle Vorbereitung gewünscht?

Linder: Rückblickend betrachte ich das auch nicht als Manko. Die vermeidbaren Fehler, die ich gemacht habe, waren eher meiner Jugend und Unerfahrenheit in Gänze geschuldet. Ich sah mich als Außenhandelskaufmann und Repräsentant der Deutschen Wirtschaft und war für interkulturelle Feinheiten ohnehin nicht sehr sensibel und aufgeschlossen.

Victoria Memorial KalkuttaVictoria Memorial in Kalkutta (© ARIJEET, AdobeStock)  

Das hat sich insofern geäußert, als dass ich sehr selbstbewusst aufgetreten bin und mir über emotionale Befindlichkeiten keine Gedanken gemacht habe. Wenn beispielsweise Delegationen Sonderwünsche hatten, habe ich anfangs ungehalten reagiert. Die beleidigten Reaktionen meines jeweiligen Gegenübers haben mir dann deutlich gemacht, dass ich möglicherweise nicht angemessen reagiert hatte. Grundsätzlich bekommt man aber weder in der indischen noch asiatischen Kultur falsches Verhalten mitgeteilt. Diese Form der sachlichen Kritik ist einfach nicht üblich in diesen Kulturen.

Ich war immer sehr direkt, bin stets auf die Menschen zugegangen, war sehr sachlich, aber auch sehr unbekümmert. Zu 90 Prozent kam das gut an.

Wie haben Sie sich in der ersten Zeit in Kalkutta zurechtgefunden? Was waren Ihre Aufgaben damals als stellvertretender Leiter der Niederlassung Außenhandelskammer?

Linder: Nach meiner rund vierwöchigen Einarbeitung in Bombay im Headoffice der IGCC hatte ich noch eine sehr gute, ebenfalls einmonatige Einarbeitung in Kalkutta durch meinen Vorgänger, Klaus Schürmann. Ich habe seine Wohnung übernommen und er führte mich in die wichtigsten Clubs ein, er arrangierte die Mitgliedschaften in den wichtigen Clubs vor Ort. Das geschäftliche-gesellschaftliche Leben in Indien findet, wie bei der ehemaligen Kolonialmacht Großbritannien, vor allem in Clubs statt. Alles in allem genoss ich eine sehr angenehme und inspirierende Einarbeitung.

Meine Hauptaufgaben waren die spezielle Exportförderung der lokalen indischen Wirtschaft nach Deutschland. Hinzu kam die Beratung bei der Marktbeobachtung und Einführung deutscher Unternehmen und Produkte in Indien. Zudem gehörte es zu meinen Aufgaben, die dort ansässigen deutschen Firmen beziehungsweise Joint Ventures zu unterstützen. So beriet ich etwa deutsche Unternehmen bei anstehenden Verhandlungen zu Joint Ventures mit indischen Unternehmen.

„Wenn ich die Verhältnisse nicht ändern kann, dann muss ich meine Einstellung ändern“

Gerne denke ich an das sehr aktive gesellschaftliche Leben innerhalb der deutschen und europäischen und amerikanischen Community zurück. Das habe ich als Newcomer sehr genossen mit mindestens drei bis fünf Einladungen – manchmal pro Woche – der Konsulate, des Amerikahauses oder der British High Commission. Das war eine besondere Form der Völkerverständigung.

Und last but not least hatte ich von Anfang an sehr enge Kontakte zum lokalen deutschen Goethe Institut, Max Mueller Bhavan – so heißen alle deutschen Goethe Institute in Indien nach dem deutschen Indologen Max Mueller. Meine Frau war damals Sekretärin des Leiters von Max Mueller Bhavan. Wir mussten uns zwangsläufig über den Weg laufen – es war "schicksalhaft" würde ich heute sagen. Meine Frau hatte einen indischen Vater und eine deutsche Mutter, war also in Indien verwurzelt.

Michael Linder (Mitte) mit Mr. Sanjoy Belu Sen (links), Chairman, Board of Directors der Indo-German Chamber of Commerce, Kalkutta (heute Kolkata) 1974.Michael Linder (Mitte) mit Mr. Sanjoy Belu Sen (links), Chairman, Board of Directors der Indo-German Chamber of Commerce, Kalkutta (heute Kolkata) 1974. Rechts im Bild der damalige Wirtschaftsminister in West Bengalen. (Foto privat)  

Mein Schwiegervater hatte vor dem Krieg in Berlin sein Elektro-Ingenieur Studium erfolgreich absolviert und dann seine deutsche Frau in Nürnberg/Erlangen während eines Praktikums bei Siemens kennen gelernt. Später hat er viele Jahre die Siemens-Niederlassung in Kalkutta geleitet. Er war von seiner Mentalität und Disziplin preußischer und deutscher als viele Deutsche. Das hat mir sehr imponiert.

Wie haben Europäer damals über die indische Kultur gedacht?

Linder: Mein Vorgänger Herr Schürmann hatte mir damals seine Sichtweise und einige spezifische Besonderheiten unserer damaligen lokalen Board Member nahegebracht. Indien war damals nach offizieller Sprachregelung ein Entwicklungsland. Herr Schürmann machte mich darauf aufmerksam, dass es besser sei, erst Mal „Smalltalk“ zu machen, sich zum Beispiel nach der Familie zu erkundigen et cetera. Unsere direkte deutsche Art, sofort den Sachverhalt zu erörtern, führte schnell zu emotionalen Irritationen bei unseren indischen Gesprächspartnern. Anfänglich war ich da etwas „resistent“, aber ich machte schnell meine diesbezüglichen Erfahrungen.

Für mich zählte vor diesem Hintergrund vor allem eins: Wenn ich die Verhältnisse nicht ändern kann, dann muss ich meine Einstellung ändern.

Tatsache ist, dass es zwischen den Indern im Norden und im Süden große Mentalitätsunterschiede gibt, übrigens wie in Deutschland auch. Persönlich habe ich vor allem zwei verschiedene Unternehmertypen wahrgenommen. So gibt es zum einen die Unternehmerdynastie Tata. Die Unternehmensgruppe hat zum Beispiel das berühmte Hotel Taj Mahal in Bombay gegründet und zur heutigen Bedeutung entwickelt. Deren Geschäftskultur ähnelt dem des Hamburger Kaufmanns - seriös, verbindlich und ehrlich. Dann gibt es die Birla-Dynastie, deren Ruf war damals nicht ganz so gut. Vielleicht ist das heute anders. Hier sollte man grundsätzlich als ausländisches Unternehmen mit Geschäftsambitionen in Indien vorsichtig sein.

„Ich war zu sehr auf meine Funktion und Aufgabe als Repräsentant der deutschen Wirtschaft fixiert.“

Was haben Sie für sich persönlich aus der indischen Kultur mitgenommen?

Linder: Das ist gar nicht so leicht für mich zu beantworten, weil ich stark zwischen meinem damaligen Verhalten und der Umsetzung meiner Aufgabenstellung und meiner späteren Reflektion unterscheiden muss.

Aus der indischen Kultur habe ich für mich herzlich wenig mitgenommen, muss ich gestehen. Dazu ein Beispiel: Meine Kollegen der Export-Importfirma Wolff & Co hatten mir hatten mir zum Abschied vor meiner Reise nach Indien die vom Englischen ins Deutsche übersetze Ausgabe der Bhagavat Gita – das ist die heilige Schrift für die Hindus, wie für uns die Bibel – geschenkt. Anstatt sie damals als Vorbereitung für den Auslandsaufenthalt zu lesen, habe ich dieses erst 40 Jahre später zur Hand genommen und gelesen, als ich mich intensiver mit den Weltreligionen befasste. Es ist verblüffend, wie viele Parallelen in der Lebensphilosophie es zwischen dem Hinduismus und Christentum gibt.

Michael Linder bei seiner Vorstellung in Bombay im April 1973 bei einem Empfang in der Deutsch-Indischen HandelskammerMichael Linder bei seiner Vorstellung in Bombay im April 1973 bei einem Empfang in der Deutsch-Indischen Handelskammer (Foto: privat)

Selbst der enge Kontakt zu Max Mueller Bhavan, dem Goethe Institut, wo ich mehrmals in der Woche deutsche Zeitungen las, hat mich der indischen Kultur nicht nähergebracht. Ich war zu sehr auf meine Funktion und Aufgabe als Repräsentant der deutschen Wirtschaft fixiert. Vielleicht war das auch ein Ausdruck einer gewissen Voreingenommenheit und Unreife.

Ich hatte aber das große Glück, relativ früh über Max Mueller Bhavan, meine spätere Frau Indira, kennen zu lernen. Sie hat mir den Zugang zu den damals maßgeblichen kulturellen Kreisen ermöglicht. Daraus sind viele wertvolle Freundschaften – bis heute – entstanden. Insofern ist meine Frau, menschlich und kulturell, das Beste und Prägendste, was aus Indien bis heute nachwirkt.

Welchen Erkenntnisgewinn haben Sie aus der Zusammenarbeit mit indischen Vertretern der Wirtschaft und Regierung generiert?

Linder: Ich habe die Inder bei meinen vielen Kontakten in Wirtschaft und Politik als sehr offen und interessiert Deutschland und mir persönlich gegenüber erlebt. Da schwang auch meistens viel Respekt und Hochachtung für Deutschland und die Deutschen mit. Der gegenseitige Umgang war stets freundlich und von Sympathie getragen.

Allerdings musste ich die Erfahrung machen, dass die Inder, mit denen ich damals zusammenarbeitete, " große Märchenerzähler" waren, das heißt, sie haben Sachverhalte, wo verbindliche Zusagen erforderlich gewesen wären – zum Beispiel bei vertraglichen Vereinbarungen, wenn sie eingefordert wurden - gerne in epischer Breite verwässert und mit beruhigenden "Zauberworten" wie "temporärer Engpass," "das geht alles in Ordnung", "don't worry" und so weiter verwässert oder beschönigt, wo nichts zu beschönigen war.

Das habe ich anfangs als sehr anstrengend empfunden. Mein Auftreten war zwar immer freundlich und den Menschen zugewandt. Meine kommunikative und offene Art hat das auch mitgetragen. Aber meine konservative, sehr deutsche Einstellung wirkte zugleich distanziert. Das klingt vielleicht wie ein Widerspruch und ist es in Teilen auch.

„Ich entsprach dem Bild eines konservativen Hamburger Kaufmannes“

Mein konservatives Großelternhaus, das mich stark geprägt hat, bestimmte meinen Habitus damals noch sehr. Das hat sich erst später gelockert. Außerdem musste ich mein Schulenglisch sehr schnell und zwingend auf einen anspruchsvolleren Level heben, was mir, da ich sprachbegabt bin, auch gelungen ist.

Michael Linder an seinem Schreibtisch in der Deutsch-Thailändischen Handelskammer in Bangkok im Jahr 1978Michael Linder an seinem Schreibtisch in der Deutsch-Thailändischen Handelskammer in Bangkok im Jahr 1978 (Foto: privat)

Insgesamt habe ich wohl sehr dem Bild eines konservativen Hamburger Kaufmannes entsprochen. In bestimmten Situationen umwehte mich sicher auch ein gewisser Dünkel. Meine Frau sagte mir kürzlich, dass ich schon sehr arrogant aufgetreten wäre. Das lag an verschiedenen Faktoren: An meiner Jugend, meiner Unerfahrenheit und an meinem starken Selbstbewusstsein. Ich habe damals keinerlei Unsicherheiten gespürt, aber immerhin aus meinen Fehlern gelernt.

Die Frage, ob mich auch als Weltbürger gefühlt habe, stellte sich nicht, weil das damals überhaupt kein Thema war. Alles war bilateral und nicht multilateral. Das trifft übrigens auch auf meine Zeit in Bangkok zu. Das ist mit Indien im Wesentlichen eins zu eins austauschbar.

Heute leben wir in einer globalisierten Welt mit ihren Vorteilen, aber auch großen Nachteilen, weil viele Menschen damit überfordert sind und daraus resultierend irrationale Ängste aufbauen, die sich in den abstrusesten Entwicklungen widerspiegeln. Dazu gehört beispielsweise das Erstarken eines neuen Nationalismus.

In dieser Zeit ein Expat in Indien zu sein, war sicher etwas ganz Besonderes?

Linder: Als ich 1973 in Bombay und später in Kalkutta aus dem Flugzeug stieg und die indischen Verhältnisse auf der Straße sah, sagte ich zu mir. Das sind eben die Verhältnisse hier, die ich nicht ändern kann und auch nicht will. Ich habe einen wirtschaftspolitischen Auftrag und sonst nichts.

Dabei haben es mir die Inder auch sehr leicht gemacht, denn alles Deutsche und Westliche wurde vorbehaltlos akzeptiert, sicher ein Erbe aus der langen Kolonialzeit. Insofern hat sich mir die Frage, was ich von der indischen Kultur annehmen oder lernen könnte, nie gestellt. Und natürlich hat mir auch das stark englisch geprägte Leben und insbesondere das Clubleben mit allen anderen Annehmlichkeiten gut gefallen. Das war schon ein Luxus verglichen mit Deutschland in einer ähnlich gelagerten beruflichen Position. Als Expat und Repräsentant der Deutsch-Indischen Handelskammer wurde ich quasi auf dem "Silbertablett" herumgereicht.

Aber das Verständnis für die indische Kultur und auch die Inder als Menschen kam erst sehr viel später, als ich anfing, meine Erfahrungen und Erlebnisse stärker zu reflektieren. Damals hatte ich einen "Tunnelblick" für meine Aufgaben und war für kulturelle Einflüsse einfach nicht empfänglich. Selbst meine Reisen in Indien und in der Region haben daran nichts geändert. Ich war immer sehr interessiert und habe alles – auch die Kultur – aufgesogen. Aber es hat mich innerlich nicht berührt oder beeinflusst. Das ist ein großer Unterschied. Dies hängt aber teilweise auch mit meiner Persönlichkeitsstruktur zusammen.

Inwiefern?

Linder: Mir fehlte ein gewisses Maß an Sensibilität und Offenheit. Meine Persönlichkeitsstruktur hängt natürlich mit meiner Kindheit und Erziehung zusammen. Ich wurde zum Erfolg gedrillt. Empathie im engeren Sinne oder soziales Verhalten spielte da keine Rolle. Das ist sicherlich ein Generationenthema und jeder bewertet das unterschiedlich für sich. Mich hat diese Erziehung durch meine Großeltern gut durchs Leben getragen. Meine Generation durfte nie Schwäche zeigen, viele waren Opfer der Umstände, es ging einfach ums Überleben.

Im Anschluss an Ihre Zeit in Kalkutta ging es nach Bangkok, wo Sie stellvertretender Leiter der Deutsch-Thailändischen Handelskammer waren. Dies markierte einen erneuten Wechsel des Kulturkreises. Wie haben Sie diesen bewältigt? Konnten Sie schnell „umschalten“ von indischen Gepflogenheiten zu thailändischen?

Linder: Der Wechsel 1975 nach Bangkok war für mich ein "fließender Übergang " von einem Kulturkreis in den anderen. Dies auch deshalb, weil ich in Indien gelernt hatte, auf die Gepflogenheiten, Mimik und Reaktionen der Thais stärker zu achten. Hinzu kam, dass ich mit dem damaligen Geschäftsführer der Handelskammer in Bangkok, Herrn Uwe Harnack, noch gut zwei Jahre eng und vertrauensvoll zusammenarbeiten konnte und er mir vieles Wichtige in der Zusammenarbeit mit den Thais vermitteln konnte. Herr Harnack wurde dann nach Kanada versetzt.

Aber da war noch eine Besonderheit. Kurz nach unserer Heirat 1975 in Hamburg wurde ich nach Bangkok versetzt und meine Frau wechselte vom Max Mueller Bhavan zur Deutschen Welle nach Köln als Rundfunksprecherin und Übersetzerin für das Bengali Programm der Deutschen Welle. Das bedeutete im Klartext, dass wir ziemlich genau ein Jahr nach unserer Hochzeit räumlich getrennt waren. Das mag zunächst etwas betrüblich klingen, war aber für meine Einarbeitung bei der Deutsch-Thailändischen Handelskammer nicht von Nachteil, weil ich mich zu 100 Prozent oder mehr auf meine neuen Aufgaben konzentrieren konnte.

Mit meiner Frau konnte ich nach einem Jahr eine zweite Hochzeitsreise nach Goa unternehmen, als sie mit einer hochkarätigen deutschen Delegation unter Leitung von Otto Wolff von Amerongen nach Bombay kam. Ich hatte den Besuch dieser Delegation sechs Wochen lang bei der Deutsch-Indischen HK vorbereitet, entliehen sozusagen von der Deutsch-Thailändischen Handelskammer.

Was waren besonders prägende Erlebnisse während Ihrer Zeit in Thailand? Lag Ihnen Thailand mehr als Indien oder war es umgekehrt?

Linder: Auch hier muss ich gestehen, dass sich meine prägendsten Erlebnisse weniger auf Land und Leute beziehen. Ich hatte ein sehr lebendiges gesellschaftliches Leben in der deutlich größeren Expat-Community mit sehr viel mehr Abwechslung und Luxus als in Kalkutta. Besondere Highlights waren sehr schöne, enge Freundschaften mit anderen Expats. Das waren alles gestandene, stabile Menschen, da herrschte ein enger Zusammenhalt und es bildeten sich bereichernde Freundschaften.

Freundschaften mit Thais waren so gut wie ausgeschlossen, da Thais selbst sehr verschlossen sind und primär ihren eigenen Kreis pflegen. In den privaten Bereich von Thais kommt man als Ausländer kaum rein. Das war in Indien, trotz der kleineren Community, anders. Die Inder sind insgesamt sehr viel offener und neugieriger als die Thais. Dies hängt sicherlich mit ihrem kolonialen Erbe zusammen. Die indische Bevölkerung ist auch heute noch sehr anglophil und nach Westen hin orientiert. Thailand war hingegen nie von einer Kolonialmacht beherrscht. Das macht einen großen Unterschied in der Mentalität und im Selbstverständnis mit anderen Kulturen. Die Thais haben Angst vor Überfremdung. Das spiegelt sich sogar in der Sprache wider. Ein Ausländer heißt im Thailändischen „Farang“ der Fremde, und nicht etwa der Gast.

Wat Arun Ratchawaram Ratchaworamawihan, BangkokWat Arun Ratchawaram Ratchaworamawihan, Bangkok (© Aurélien Grimpard – Unsplash)

Das prägendste persönliche Ereignis war natürlich die Geburt unserer Kinder Sonja (1978) und Marcus (1980) im BANGKOK Nursing Home. Die persönliche Betreuung meiner Frau und Kinder durch die Schwestern und Ärzte war exorbitant. Nicht zuletzt auch, weil der Gynäkologe meiner Frau unser Nachbar war.

Dazu kann ich eine Anekdote erzählen: Bei der ersten Ausreise unserer Tochter als Säugling wollte der Immigration Officer sie nicht ausreisen lassen, weil in ihrem Pass kein Einreisevisum war. Wie auch?  Erst als der Kapitän der Lufthansa-Maschine persönlich intervenierte, weil er nicht abfliegen konnte, löste sich der Spuk mit dem begriffsstutzigen Beamten auf.

Wir hatten ein wunderschönes Haus mit einem großen Garten. Bemerkenswert ist allerdings die Treue und Anhänglichkeit unserer drei Bedientesten im Haus. Fuang, unsere Köchin, war die Nummer Eins in der Hierarchie, danach kamen die beiden anderen Frauen. Einen Fahrer und Gärtner haben wir uns aber – im Gegensatz zu vielen anderen Expats nicht „gegönnt“, weil wir es unnötig fanden.

Fuang liebte unsere Erstgeborene Sonja abgöttisch und wenn sie mit ihr auf dem Arm auf den täglichen lokalen Markt ging, waren Beide das Highlight auf dem Markt. Alle Bediensteten waren die vollen fünf Jahre bei uns im Haushalt. Kurz vor unserem Abflug haben wir Fuang als Dankeschön und für eine bessere Zukunft ein Konto bei einer lokalen Bank mit einem angemessenen Betrag eingerichtet.

Eine Präferenz für das eine oder andere Land hatte ich weder damals noch heute. Beide sind mir gleich lieb und von mir wertgeschätzt, mit nur minimalen Unterschieden in der Wahrnehmung. Das hängt aber wiederum mit meiner Persönlichkeit zusammen, die grundsätzlich alles erst Mal im Kopf "filtert", bevor es zu empathischen oder emotionalen Befindlichkeiten kommt.

Michael Linder 1977 mit Mitgliedern der von ihm betreuten Thai Delegation (Aussteller) auf der jährlich stattfindenden Überseemesse Partner für Fortschritt, speziell für Entwicklungsländer in BerlinMichael Linder 1977 mit Mitgliedern der von ihm betreuten Thai Delegation (Aussteller) auf der jährlich stattfindenden Überseemesse „Partner für Fortschritt“, speziell für Entwicklungsländer in Berlin (Foto: privat)

1980 kehrten Sie nach Deutschland zurück und gingen in die Wirtschaft. Welche persönlichen Herausforderungen haben Sie gemeistert? Wie schnell und gut konnten Sie in der deutschen Kultur wieder Fuß fassen?

Linder: Ich musste mich weder kulturell noch emotional in irgendeiner Weise umstellen. Ich habe lediglich meinen Schreibtisch in Bangkok mit einem Schreibtisch in einem deutschen Büro getauscht. Ich hatte aber anfänglich bei meinen Bewerbungen viele Vorurteile zu überwinden, weil ich ja in Indien und auch in Thailand kein klassisches, operatives Import-Export Geschäft mehr gemacht hatte. Ich war ja in diesen sieben Jahren nur beratend, mit ein bisschen Marktforschung zwischendurch, tätig. Das wurde mir sehr deutlich zum Vorwurf gemacht. Meine Erfahrungen mit Land und Leuten, mein fließendes Englisch in Wort und Schrift, spielten keine Rolle. Glücklicherweise war ich ja bei der Rückkehr mit 36 Jahren noch relativ jung. Später – mit Mitte 40 – wäre das sicher kritischer gewesen.

„Kein Expat sollte länger als zehn Jahre im Ausland für ein deutsches Unternehmen tätig sein“

Warum wurde Ihre Auslandserfahrung nicht wertgeschätzt?

Linder: Ich musste mir den Vorwurf anhören, ich sei nur ein besserer Frühstücksdirektor in Indien und Thailand gewesen. Ich habe viele Bewerbungen schreiben müssen – quer durch Deutschland und musste mich erst einmal um meine Existenz kümmern, es war eine bittere Zeit und ich habe kämpfen müssen. Deshalb gibt es ja für Expats das ungeschriebene Gesetz, nicht länger als maximal sieben bis neun Jahre im Ausland zu arbeiten, weil die Rückkehr, selbst in großen Unternehmen, sehr schwierig wird und einen Karriereknick bedeuten kann.

Ich würde sagen, kein Expat sollte länger als zehn Jahre im Ausland für ein deutsches Unternehmen tätig sein, weil sonst die berufliche Integration zuhause problematisch verlaufen könnte.

Warum ist das so?

Linder: Man verliert tatsächlich ein Stück weit den Anschluss an das Business in Deutschland und man gewöhnt sich auch an den Luxus und die herausgehobene Stellung im Ausland. Auslandsheimkehrer, die erst nach vielen Jahren nach Deutschland kommen, werden auch in großen Unternehmen wie Hoechst, Bayer oder bedeutenden Handelshäusern wie Exoten beäugt, nicht ernst genommen und gelten bei Vorgesetzten, die selbst noch nie im Ausland waren, als für die Heimatfront "versaut", nicht mehr voll einsatzbereit. Das ist sehr überheblich und natürlich nicht wahr – wenn man von den Einzelfällen absieht, die aus Frust oder persönlichen Schwierigkeiten Alkoholprobleme oder ähnliches entwickelten. Aber das gibt es in Deutschland auch zur Genüge. Oft spielt auch ein nicht eingestandener Neid über das vermeintliche Luxusleben der Expats dabei eine Rolle.

Warum hat es Sie nicht wieder zurück ins Ausland gezogen – zumindest was den Lebensmittelpunkt angeht. Was schätzen Sie an Ihrer Heimat Deutschland?

Linder: Für mich war das Kapitel Auslandserfahrung nach sieben Jahren Asien abgeschlossen und ich wusste – mehr intuitiv als tatsächlich in Bangkok wahrgenommen, dass eine rechtzeitige Heimkehr und Integration sowohl für mich als auch die Kinder, unabdingbar war. Ich habe erwachsene Kinder von Langzeit-Expats erlebt, die weder Deutsch noch Thailändisch oder Englisch fließend beherrschten. Diese Expat-Kinder konnten keine Sprache fließend beherrschen, wurden oft von Nannys erzogen und haben sich später kulturell in keiner der beiden Welten sicher verorten können. Das habe ich als ein großes Problem wahrgenommen, das ich meinen Kindern ersparen wollte.

Michael LinderMichael Linder (Foto: privat)

Selbst wenn man mir damals 1980 einen ähnlichen oder sogar attraktiveren Job bei einer anderen Auslandshandelskammer angeboten hätte, so wusste ich, meine Zeit ist vorbei und ich bin gut beraten, mich wieder – rechtzeitig – nach Hause zu begeben. Die Erfahrungen, die ich dann nach meiner Rückkehr sammelte, bestätigt meine richtige Einschätzung zu 100 Prozent.

„Deutschland ist ein wunderbares Land, das ich sehr schätze“

Für mich waren die sieben Jahre In Indien und Thailand eine schöne Erfahrung, wenngleich nicht im engeren Sinne prägend, denn ich war nicht unbedingt in der Lage, in eine fremde Kultur einzutauchen, und habe damals keinen persönlichen Gewinn für mich gesehen. Deutschland war ein sicherer Hafen für meine Frau, meine Kinder und mich.

Ich fand schließlich eine neue Tätigkeit bei der Firma Berendsohn AG, wo ich Leiter der Produktentwicklung und Importabteilung war. Von 1983 – bis zu meinem Ruhestand mit 65 Jahren im Jahre 1999 – war ich Leiter der Niederlassung Mainz/Wiesbaden und Darmstadt für die Deutsche Städte Medien (früher Deutsche Städte Reklame), dem damaligen Marktführer für Außenwerbung.in Deutschland. Das war ein wunderbarer beruflicher Abschluss. Ich hatte weitreichende Freiheiten und agierte wie ein Unternehmer im Unternehmen.

Dass ich meine Heimat Deutschland so sehr schätze, liegt zum Teil an meiner konservativen Lebenseinstellung. Meine Wurzeln sind in Hamburg. Es ist ein ambivalentes Gefühl, denn einerseits bin ich ein freier unabhängiger Geist und das ist nicht zwangsläufig ortsgebunden.

Besonders heute und nach 40 Jahren, die ich hier wieder lebe, bin ich sehr froh und glücklich in so einem wunderbaren Land, mit Ordnung, Disziplin und Menschen, die für mich bedeutsam geworden sind, zu leben. Die temporären, corona-bedingten Schwierigkeiten, ändern nichts an meiner Einstellung. Im Gegenteil: Meine privilegierte Stellung als Ruheständler erlaubt es mir und meiner Familie, von Corona kaum beeinflusst, ein angenehmes Leben zu führen. Und dafür bin ich dankbar. Deshalb bin ich unter anderem auch in unserer örtlichen evangelischen Kirche und in der Lokalpolitik engagiert – und gebe gerne etwas zurück.