Resilienz in Krisenzeiten: Eine kulturübergreifende Perspektive
Krisen bieten eine Chance, resilienter zu werden und sich wirklich weiterzuentwickeln. Als Mensch, als Gesellschaft, als Unternehmen. In der Physik spricht man im Zusammenhang mit Resilienz von „Elastizität“ oder „Spannkraft“. Bestimmte Materialien kehren nach jeder Verformung wieder in ihre alte Form zurück. Man kann sich das wie bei einem Anti-Stressball vorstellen.
Das Wort „Resilienz“ ist vom lateinischen „resilire“ abgeleitet. Es bedeutet „zurückspringen“. Allerdings: Können und wollen wir wirklich zum ursprünglichen Zustand zurückkehren? Veränderungen sind normal. Krisen gehören zum Leben. Die Frage ist, was wir aus einer Krise machen. Nicht, wie lange sie dauert.
Resilienz als Spannungsfeld
Ich bin davon überzeugt, dass persönliche, gesellschaftliche und unternehmerische Resilienz enorm gestärkt wird, wenn Spannungsfelder erkannt und scheinbare Gegensätze kreativ überbrückt werden.
Ein Spannungsfeld, mit dem sich Unternehmen konfrontiert sehen, ist das zwischen individuellen Interessen und der Dynamik der Teams. Ist das Unternehmen im Krisenmodus, kommt gerade dieses Spannungsfeld besonders zum Vorschein. Die Frage ist: Was kann jede und jeder einzelne tun, um ein besserer Teamplayer zu werden und gleichzeitig innerhalb des Teams, die individuelle Freiheit zu fördern?
Gemeinsam mit dem Team um den niederländischen Kulturforscher Fons Trompenaars befasse ich mich mit Spannungsfeldern, mit denen Gesellschaften aufgrund der Verbreitung des Coronavirus konfrontiert sind. Unsere Erhebungen und Umfragen haben ergeben, dass die durch Covid-19 verursachten Spannungsfelder von allen Menschen auf der Welt geteilt werden. Die Lösungsansätze zu deren Überbrückung sind jedoch kulturell geprägt und unterscheiden sich dadurch.
Eine Synthese kultureller Werte
Unseren Studienergebnissen zufolge schneiden Asiaten bei der Überbrückung des Spannungsfelds zwischen Individuum und Gemeinschaft besser ab als Europäer und Südamerikaner. In Asien neigt man dazu, sich im Sinne der Gemeinschaft anzupassen. Innerhalb der Gemeinschaft ist Eigenverantwortung erlaubt.
Deutsche und beispielsweise Kanadier setzen eher auf individuelle Verantwortung, um Solidarität für die Gemeinschaft zu schaffen. In Schweden gab es am Anfang der Pandemie große Hoffnung, dass die individuelle Verantwortung mit der Gruppensolidarität in Einklang gebracht werden kann. Die jüngsten Ergebnisse sind in dieser Hinsicht leider enttäuschend. Es scheint momentan so, als ob beispielsweise Singapur, Südkorea und andere Länder Asiens das Virus besser eindämmen können als westliche Länder.
Die Pandemie ist eine gesamtgesellschaftliche Herausforderung. Sie kann nicht im Alleingang überwunden werden. Das Virus kann durch eine Überbrückung gegensätzlicher Werte besiegt werden. Zu wenige westliche Länder erkennen diese Wahrheit.
Individuelle Freiheit versus Solidarität
Unternehmen möchten optimalen Schutz für Mitarbeitende. Gleichzeitig müssen sie ihre Leistungsfähigkeit und Rentabilität erhalten. Die Menschen im Unternehmen sind sich bewusst, dass sie einem Infektionsrisiko ausgesetzt sind. Daher spielt das Spannungsfeld zwischen Individuum und Team im Kampf gegen das Coronavirus eine entscheidende Rolle.
Solidarität innerhalb des Unternehmens hilft dabei, Risiken zu minimieren. Gleichzeitig sind Angestellte vom ganz konkreten Risiko der Arbeitslosigkeit, von Kurzarbeit oder von Budgetkürzungen bedroht.
Unternehmen, die auf individuelle Freiheit setzen, mögen anfänglich erfolgreich sein. Solidarität ist langfristig nachhaltiger. Diejenigen Unternehmen, die Leistungsfähigkeit mit Empathie für die Mitarbeitenden verbinden, sind resilienter in einer Krise – kulturübergreifend.
Die Abbildung verdeutlicht das Spannungsfeld zwischen den eigenen Bedürfnissen und offiziellen Richtlinien:
Eigene Bedürfnisse erfüllen versus offiziellen Richtlinien folgen (Mit freundlicher Genehmigung von Trompenaars Hampden-Turner (THT). Cartoons von David Lewis.)
Spannungsfelder überbrücken
Wie können Unternehmen Spannungsfelder so miteinander verbinden, dass sich Einzelne für die Gesundheit und das Wohlergehen der Allgemeinheit verantwortlich fühlen? Die Antwort liegt in der Unternehmenskultur. Eine Kultur, in der jede und jeder die Verantwortung dafür übernimmt, an die Regeln zu erinnern, die alle schützen. Besonders die Führungskräfte müssen hier mit gutem Beispiel vorangehen.
Anstatt zwischen zwei Gegensätzen zu wählen, führt ein strukturierter Prozess der Überbrückung zu nachhaltigen Ergebnissen und Leitlinien zum Handeln. Mit dem sogenannten Dilemma-Reconciliation-Prozess wird greifbar, wie Menschen im kulturellen Kontext mit den Herausforderungen einer Krise umgehen.
Was bringen wir mit Resilienz in Verbindung?
Resilienz ist ein Thema, das mir am Herzen liegt. Gerade jetzt ist es wichtiger denn je. Vor Kurzem habe ich zu Resilienz auch einen Online-Kurs konzipiert. Als ich anfing, Ideen für den Online-Kurs zu sammeln, habe ich Menschen, die ich schätze, gefragt, was sie ganz persönlich mit Resilienz in Verbindung bringen. Ich fragte Menschen in Deutschland, England, den Niederlanden, China, Griechenland, Spanien und den USA.
„Behind the Scenes“ zum Online-Kurs »Resilienz in Krisenzeiten – Mit Unsicherheit und Veränderung umgehen«. Erschienen im Februar 2021 exklusiv auf LinkedIn Learning
So unterschiedlich die Aussagen waren, gab es jedoch eine verbindende Erkenntnis: Die Resilienz aller wird gestärkt, wenn das Bedürfnis nach individueller Freiheit mit dem Bedürfnis nach Solidarität mit anderen verbunden wird. Ein guter Freund aus den USA brachte es so auf den Punkt: „Wenn ich anderen dabei helfe resilienter zu werden, trage ich zu meiner eigenen Resilienz bei.“
Eine solche Einstellung ist nach meiner Überzeugung sowohl in der Gesellschaft als auch innerhalb von Unternehmen förderlich. Entscheidend ist es, Einzelne dazu zu ermutigen, sich um die Allgemeinheit zu kümmern. Gleichzeitig wird die Allgemeinheit angeregt, sich für die Widerstandsfähigkeit Einzelner verantwortlich zu fühlen. Weitere Erkenntnisse und Ideen sind in meinen Resilienz-Kurs eingeflossen.
Resilienz als Zeitsprung in die Zukunft
Resilienz heißt Spannungsfelder zu überbrücken, zu überwinden und weiterzumachen. Resilienz hat nichts damit zu tun, Spannungen aus- oder durchzuhalten. Je mehr sich die Gesundheitskrise zu einer Wirtschaftskrise entwickelt, desto wichtiger ist es, das Gemeinschaftsgefühl und die positiven Aspekte hervorzuheben. So bauen wir Vertrauen auf und helfen dabei, durch Solidarität die Resilienz aller zu stärken.
Die jetzige Krise wird enden. Und jede und jeder kann eine Wahl treffen, die Zukunft mit Zuversicht zu gestalten.
Jan-Christoph Daniel
Jan-Christoph Daniel ist ein international erfahrener Medienschaffender, Berater und Autor. Unter dem Markennamen „Untold Colors“ berät er Unternehmen, die Veränderungsprozesse durchlaufen – seien es strategische Neuausrichtungen, länderübergreifende Kooperationen oder Betriebsübergänge.
Jan hat fast acht Jahre in Asien gelebt und im Rahmen zahlreicher Medienprojekte mit Teams aus Südostasien, China, Australien und Neuseeland gearbeitet. Als Editor und Produzent ist er viele Jahre in der professionellen Dokumentar- und Imagefilm-Produktion tätig gewesen. In seinen Lernformaten setzt er seine Expertise in der Medienproduktion und im Storytelling ein.
Jan ist Instructor bei LinkedIn Learning, zertifizierter interkultureller Moderator und Teil des Netzwerks der Unternehmensberatung Trompenaars Hampden-Turner (THT) in Amsterdam.
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