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Interview
© Robert Enskat; Irina Strelnikova, AdobeStock

„Letztlich geht es darum, sich gut aufgehoben zu fühlen.“

Robert Enskat ist Auswanderer und seit seiner Kindheit Weltenbürger. Im Interview erzählt er unter anderem, wie es für ihn war, in den 70-er und 80-er Jahren Kindheit und Jugend in Afrika, USA, Schottland und Deutschland zu verbringen, was genau sich hinter dem Phänomen der digitalen Nomaden verbirgt und wie schlimm es ihm damit erging, von seiner Auslandskrankenversicherung im Stich gelassen zu werden.

BDAE: Sie sind in Namibia geboren und haben einen Teil Ihrer Kindheit dort verbracht. Sie sind aber auch in Schottland, in den USA und in Südafrika aufgewachsen. Wie kam es dazu?

Enskat: Meine Eltern waren schon immer sehr weltoffen, polyglott und liebten das Abenteuer. Mein Vater wurde während seiner Bundeswehrzeit stark von seinem Spieß beeinflusst, der Afrika liebte. Dieser infizierte ihn sozusagen mit dem „Afrikavirus“. Von da an reiste er so oft er konnte nach Afrika. Nachdem er meine Mutter kennengelernt hatte und mein Bruder geboren war, beschloss er, einen abenteuerlichen Roadtrip nach Kapstadt zu unternehmen. Er blieb dann aber in Namibia hängen und beschloss, dorthin auszuwandern, also holte er meine Mutter und meinen Bruder nach. Das war 1968. Dort lebten meine Eltern ein paar Jahre und nachdem ich in Namibia geboren worden war, ging es zunächst zurück nach Deutschland. An der Reiselust meiner Eltern änderte die Rückkehr dorthin jedoch nichts. Während meine Schulkameraden in den Sommerferien mit ihren Eltern an die Nordsee oder so fuhren, reisten wir mit dem ausgebauten Landrover meines Vaters durch ganz Europa oder sogar an den Persischen Golf.

Mit 14 Jahren wollte ich dann unbedingt ein Highschool-Jahr in den USA machen und verwirklichte dieses Vorhaben mit Anfang 15, als ich zu meiner Gastfamilie nach Louisiana flog. Nach diesem Jahr zog ich dann mit meinen Eltern erstmal nach Schottland, wo sie zwölf Jahre zuvor ein altes Holzschindelhaus gekauft hatten, dass sie in den folgenden Jahren während der Schulferien renovierten. Das war so meine zweite Heimat mit den Jahren geworden. Meine Eltern beschlossen dann aber, wieder nach Afrika zu gehen. Und ich ging mit – Schule in Deutschland oder Schule in Afrika – das war meine Option. Geplant war wieder Namibia, wurde aber dann Südafrika für mich. Um die Abiturzeit entschied ich, alleine zurück nach Deutschland zu gehen. Es war nämlich so, dass das südafrikanische Abitur damals aufgrund der Apartheid nirgendwo sonst auf der Welt anerkannt war und ich hätte damit nicht studieren können. Nach dem Abitur leistete ich meinen Zivildienst im Krankenhaus und danach landete ich in einem renommierten Figurentheater, wo ich etwa zwei Jahre lang blieb.

BDAE: Ihren beruflichen Werdegang starteten Sie in Deutschland?

Enskat: Ja, sehr früh sogar. Heute ginge das wohl nicht mehr so einfach. Aber bei uns in der Familie war immer klar, dass gearbeitet werden muss, wenn man etwas haben will. Noch bevor ich eingeschult wurde, konnte ich schon Bohrmaschinen bedienen und wusste, wie man Fußbodenbeläge bespannt. Für mich war es normal, meinem Vater bei seiner Arbeit zu helfen oder im Geschäft meiner Mutter zu stehen. Auch während meiner Abizeit habe ich gearbeitet – notgedrungen. Meine Eltern hatten sich getrennt, mein Vater war noch in Afrika, meine Mutter wieder in Deutschland – und es ging uns finanziell schlecht. Um also das Abi zu machen, musste ich nebenbei arbeiten, BAföG wurde mir nicht bewilligt. Also am Hauptbahnhof Postwagons be- und entladen, am Flughafen Kofferwagen einsammeln, in Cafés bedienen und so, klassische Nebenjobs.

Der „richtige“ berufliche Werdegang begann nach meinem Zivildienst. Zwei Jahre im Theater. Dann begann ich, zu studieren – Anglistik/Amerikanistik, Geschichte und Kulturanthropologie in Frankfurt. Und da ich einen Studentenjob brauchte, um das zu finanzieren, landete ich bei der F.A.Z., konkret beim Hochschulanzeiger, den ich gemeinsam mit einer Kollegin drei Jahre lang eigenverantwortlich herausbrachte. Der damalige Marketingleiter der F.A.Z. bot mir schließlich einen Job an, der sehr lukrativ war. Er empfahl mir, das Studium abzubrechen. Leider folgte ich dem Rat, denn ich habe bis heute keinen Studienabschluss – und ohne den hatte und hat man einfach verloren. Ich hatte lediglich das Abitur in der Tasche. Während dieser Zeit lernte ich durch meine Arbeit die Werbebranche kennen und wurde 1999 Werbetexter bei einer der erfolgreichsten Dialogmarketing-Agenturen der Welt. Mehrere Jahre und Stationen folgten, bis ich eines Tages die Schnauze voll hatte und wieder Lust auf eine bodenständige Arbeit hatte: Ich übernahm einen Zeitungskiosk-Laden in München. Das hielt ich zwei Jahre lang durch, bis ich feststellte, dass meine kreative Ader doch zu dominant ist.

„Wir wollten spüren, dass wir ans Ende der Welt reisen“

Ich hatte aber auch Lust auf Urlaub und reiste für mehrere Wochen mit meiner neuen Freundin nach Thailand. Ich habe mich dann in dieses Land verliebt. In dieser Zeit war ich für eine Werbeagentur in Nürnberg tätig und pendelte regelmäßig nach Frankfurt, um meine Freundin zu sehen. Sowohl die Arbeit dort als auch die Pendelei frustrierten mich zunehmend. Wir waren gerade 40 geworden und beschlossen schließlich, noch einmal eine Veränderung zu wagen. Also heirateten wir und wanderten nach Thailand aus. Übrigens verzichteten wir auf eine Flugreise, sondern fuhren von Moskau aus mit der Transsibirischen Eisenbahn nach Thailand. Wir wollten spüren, dass wir wirklich am Ende der Welt sind. Uns war klar, dass die ersten Jahre nicht leicht würden, aber wir schafften es, uns etwas aufzubauen.

Leider kam 2018 ein kleiner Schicksalsschlag in Form eines Motorradunfalls, bei dem ich mein Knie komplett zerschmetterte. Ich ließ die Verletzung nicht behandeln, weil ich so erzogen worden war, dass man Schmerzen keine große Beachtung schenkt – blöder Trotzkopf. Monate später rächte sich das und der Zustand des Knies verschlechterte sich rapide. Ich konnte nur noch zu Hause auf der Couch liegen und war unfähig, noch irgendetwas zu unternehmen. Ausgerechnet in dieser schlimmen Zeit trennte sich meine Frau von mir. Der Zustand meines verletzten Beines wurde nicht besser, also flog ich auf Anraten meines Bruders, der lange Jahre als Krankenpfleger in der Intensivmedizin gearbeitet hatte, nach Deutschland, um mich dort behandeln zu lassen.

BDAE: Wie waren Sie versichert?

Enskat: Das war genau das Problem. Ich hatte eine Auslandskrankenversicherung bei der HanseMerkur und erfuhr dann auch, dass diese bei Heimataufenthalten nur für maximal 30 Tage leistet. Meinem Bruder war aber schon in dem Moment, als er mich am Flughafen abgeholt hatte, klar, dass ich mindestens drei Monate brauchte, um wieder einigermaßen hergestellt zu werden. Also meldete ich mich wieder offiziell in Deutschland und war dadurch gesetzlich krankenversichert. Die Diagnose der Ärzte war niederschmetternd: Es war die Rede von Rollstuhl und/oder Amputation. Schlussendlich wurde das Bein geschient, der Knochen mit Nägeln fixiert und ich hatte den Ehrgeiz, wieder richtig laufen zu lernen. Glücklicherweise kann ich inzwischen wieder einigermaßen normal laufen.

BDAE: Wie ging es für Sie weiter?

Enskat: Ich wollte vor allem meine berufliche Existenz voranbringen. In Deutschland war das schwer möglich – zu lange weg gewesen, „zu alt“ für die Werbebranche. Und mangels Hochschulabschluss kam ich auf Unternehmensseite nicht mal am Pförtner vorbei. Inzwischen war Südost-Asien zu einer Art Heimat geworden und so ging ich dorthin zurück und baute mir dort mein kleines Business auf, erst in Thailand, dann in Vietnam. Außerdem knüpfte ich als Reisejournalist wieder an meine Zeit als Redakteur beim Hochschulanzeiger an und reaktivierte alte Kontakte in der Werbebranche. Doch dann musste ich erneut einen Rückschlag verkraften. Ich wachte eines Nachts in meinem Apartment in einer Blutlache auf. Vermutlich bin ich in der Küche schlimm ausgerutscht und auf den Fliesenboden geknallt – ich kann mich nur noch daran erinnern, dass ich mir einen Tee kochen wollte. Die Folge war, dass mein Kinn und beide Kiefer links und rechts gebrochen waren. Da machte ich eine Erfahrung mit meiner Auslandskrankenversicherung HanseMerkur, die schmerzhafter war als der Unfall selbst.

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© Robert Enskat

BDAE: Inwiefern? Was war passiert?

Enskat: Ich musste die Erfahrung machen, dass auf meine Versicherung kein Verlass war. Nach der Meldung des Unfalls an die HanseMerkur folgte eine Odyssee. Kostenübernahme der Behandlung ja, Kostenübernahme nein, warten, noch eine Spezialistenmeinung einholen, warten – denn der Spezialist musste extra aus Bangkok eingeflogen werden. Dann erhielt ich plötzlich die Kündigung aufgrund einer Formulierung in einem Aufnahmebogen im Krankenhaus, dann war ich doch wieder versichert und es hieß Kostenübernahme ja, noch eine geforderte Spezialistenmeinung einholen, OP-Termin ja, OP-Termin nein und und und… es zogen Tage und Wochen ins Land, während ich mich nur von Schmerzmitteln, Antibiotika, Nahrungsergänzungsmitteln und Suppen ernähren konnte. Schließlich sollte ich operiert werden und hatte einen Termin im Krankenhaus, zu dem ich morgens um 5 auf nüchternen Magen mit dem Moped etliche Kilometer auf wackeligem Asphalt fahren musste. Das alles dann nur, um mir vom Arzt sagen lassen zu müssen: „Jetzt noch zu operieren, ist zu gefährlich, eine komplette Gesichtslähmung ist zu befürchten! Das hätte sofort operiert werden müssen!“ Hätte ich ja auch gemacht. Ich sollte aber warten.

Ich habe mich dann damit abgefunden, dass ich bestimmte Dinge für einen langen Zeitraum nicht mehr essen kann und meine Kiefer falsch zusammengewachsen sind. Dann wollte ich wenigstens die Kosten für die Medikamente erstattet haben – die kostspielige OP von ungefähr 40.000 Euro wäre ja auch bezahlt worden. Aber Pustekuchen. Ich hatte die Rechnung ohne die AGB der HanseMerkur gemacht. Ich hätte eine ärztliche Verordnung für die Schmerzmittel haben müssen.

„Niemand lernt unzählige Seiten der AGB einer Auslandskrankenversicherung auswendig“

Ich hatte nur die Quittungen der Apotheken, nicht aber die Rezepte eines Arztes. Das war ein Fehler, wie sich später herausstellte. Ich dachte, für ein paar Schmerztabletten alle paar Tage zum Preis von etwa zehn Euro extra einen Arzt aufzusuchen, der sich etwa zehn Sekunden Zeit dafür nimmt, aber 100 Euro verlangt, das ist doch Blödsinn, auch wenn das erstattet worden wäre. Apotheken waren an jeder Ecke. Tja, ohne Rezept eines Arztes sind die Quittungen so nutzlos wie Regenmäntel in der Wüste.

Stattdessen speiste mich die Sachbearbeiterin mit der Bemerkung ab, dass dies ja alles in den AGB meiner Versicherung stünde. Auf meinen Hinweis, dass ich die Medikamente gebraucht hatte, da die OP permanent verschoben wurde, und ich sonst vor die Hunde gegangen wäre, kam jedenfalls keine Einsicht. Jetzt mal im Ernst: Wer liest sich zig Seiten AGB durch und lernt diese auswendig? Laut Aussage der HanseMerkur wäre ich – in einem hypothetischen Fall – verpflichtet, sofort einen Arzt oder ein Krankenhaus aufzusuchen, wenn ich beispielsweise auf der Straße stolpere und mir das Knie aufreiße. Selbst wenn ich direkt vor einer Apotheke stolpere, dann da reingehe und mir Jod und Verband hole – ich müsste erst ins Krankenhaus oder zu einem Arzt gehen, auch wenn das 25 Kilometer entfernt ist. Was ich auch nicht verstehe ist, dass 40.000 Euro für die OP bezahlt worden wären, aber die Medikamentenkosten, die um ein Vielfaches niedriger waren, die konnte man mir nicht erstatten!

BDAE: Was wünschen Sie sich nach dieser Erfahrung von einer guten Auslandskrankenversicherung?

Enskat: In erster Linie wünsche ich mir feste persönliche Ansprechpartner. Jedes Mal, wenn ich bei der HanseMerkur anrief, landete ich in er Zentrale und musste erstmal dort alles erklären und es dauerte eine gefühlte Ewigkeit, bis ich dann jemand Zuständiges bekam. Vielleicht sollte man eine Zwischeninstanz vor der Schadenregulierungsabteilung etablieren. Eine Art Task Force, die nichts anderes tut, als einem zu sagen, dass alles gut wird und die dann die richtigen Kontakte herstellt und erst einmal den Prozess der Kostenübernahme und Schadenregulierung einleitet. Wenn die Mitarbeiter dieser Task Force noch einen medizinisch geschulten Hintergrund hätten, wäre das perfekt. Einfach jemand, der einem sagt »Keine Sorge, alles wird gut, wir kümmern uns um Sie!« Das ist das, was man in solchen Momenten hören möchte. Und nicht »Besorgen Sie sich vom Krankenhaus das CT und schicken Sie uns das zu!« Bei der HanseMerkur hatte ich letztlich nur eine Ansprechpartnerin und das war die Sachbearbeiterin, die für die Arztquittungen zuständig war.

„Ich wünsche mir von einer Auslandskrankenversicherung eine medizinische Beratung im Krankheitsfall“

Mir fehlte auch eine medizinische Beratung – soll ich ins Krankenhaus gehen oder nicht, wie sollte ich mich behandeln lassen und so weiter? Auch jetzt zu Corona-Zeiten bin ich oft verunsichert. Ich finde, es geht auch nicht, dass ich mir Sorgen machen muss, ob ich mir das Krankenhaus überhaupt leisten kann! Es ist leider in Vietnam und in vielen anderen Ländern, so, dass die Kliniken insbesondere an Expats und Ausländern versuchen, Geld zu verdienen. Ich als Patient kann mich aber schlecht wehren beziehungsweise schwierig einschätzen, was da alles medizinisch auf mich zukommt. Ich hatte kürzlich eine schwere Lebensmittelvergiftung und habe mich wegen des bürokratischen, abschreckenden Verhaltens der HanseMerkur nicht getraut, ins Krankenhaus zu gehen. Ich wollte schließlich nicht auf den Kosten sitzenbleiben – falls wegen irgendwelcher AGBs diese nicht erstattet werden. Stattdessen blieb ich tagelang zu Hause und schlief, während ein Freund hier, ein Arzt im Ruhestand, regelmäßig nach mir schaute.

Ich kann ja verstehen, dass Krankenversicherungen auch den betriebswirtschaftlichen Aspekt nicht aus den Augen verlieren dürfen und natürlich gibt es Versicherte, die vielleicht hypochondrisch veranlagt sind und wegen jeder Kleinigkeit zum Arzt gehen. Aber gerade dann wünsche ich mir, dass es mehr Beratung, mehr Unterstützung im Krankheitsfall gibt. Eine Beratungsstelle als erste Anlaufstelle, die mir sagt, ob und wann ich ins Krankenhaus oder zum Arzt gehen soll, was ich beachten muss und so weiter. Personal, das sich mit den medizinischen Gegebenheiten im Ausland auskennt, dem ich nicht jedes Mal erklären muss, dass der nächste Arzt in Thailand ungefähr 80 Kilometer von meiner Wohnung entfernt ist. Es geht um das Pragmatische und Lebensnahe, die meisten Versicherungen agieren aus meiner Sicht lebensfern. Letztlich geht es darum, sich gut aufgehoben zu fühlen.

BDAE: Sie beschäftigen sich intensiv mit dem Thema digitale Nomaden und schreiben darüber regelmäßig in Ihrer Kolumne beim Online-Magazin t3n. Sind digitale Nomaden eine Gruppe von Menschen, die signifikant wachsen wird?

Enskat: Es kursieren diverse Zahlen, manche sagen, dass es schon 20 bis 50 Millionen sind – ich bin mir da nicht sicher. Aber Remote Work wird mehr und mehr an Bedeutung gewinnen. Ich glaube, dass es sehr auf die Definition des Begriffs ankommt. Ich hatte mich mal in meiner Kolumne an eine differenzierte Betrachtung der Begrifflichkeiten gewagt. Digitale Nomaden sind grob gesagt, Menschen, die mit Rucksack um die Welt reisen und arbeiten. Slowmads sind ebenfalls Menschen, die um die Welt reisen und dabei arbeiten, aber eher etwas gemütlicher. Digipats wiederum sind Menschen, die schlichtweg ausgewandert sind, etwas reisen und dabei arbeiten. Allen gemein ist die Tatsache, dass sie nicht mehr im Heimatland sind Ich sehe, dass Remote Work, also ortsunabhängiges Arbeiten, auf der ganzen Welt einen völlig neuen Stellenwert bekommt. Vor drei Jahren haben Personaler noch Schnappatmung gekriegt, wenn sie etwas von „Remote Work“ gehört haben. Das hat sich inzwischen geändert – auch oder vor allem wegen der Corona-Krise. Wenn heute Mitarbeiter zu ihrem Chef oder ihrer Chefin gehen und sagen, sie möchten mal ein Jahr aus dem Ausland heraus remote arbeiten, dann stoßen sie heute viel eher auf offene Ohren. Wir erleben da einen Paradigmenwechsel. Ja, ich denke, dass die Zahl der digitalen Nomaden steigen wird.

Es scheint mir auch zunehmend Trend zu sein, dass Unternehmen ihren Mitarbeitern von sich aus anbieten, ortsunabhängig zu arbeiten. Immer mehr Firmen, Twitter etwa als prominentes Beispiel, ermöglichen es ihren Mitarbeitern dauerhaft remote zu arbeiten oder setzen ganz auf Remote Teams. Ich persönlich glaube, dass digitale Nomaden, die für ihr Unternehmen oder ihren Auftraggeber fernab eines festen Arbeitsplatzes arbeiten, einen ganz anderen Arbeitsethos haben als so mancher Angestellter. Sie wissen um ihre Freiheiten und Flexibilität und verstehen, wie wichtig Zuverlässigkeit und Verbindlichkeit sind. Die klassische „nine-to-five“-Mentalität findet man dort nicht. Wenn ein Auftrag bis zu einem fixen Termin erledigt sein muss, dann sitze ich zur Not auch mehrere Nächte daran – Hauptsache, ich kann die Deadline halten.

„Echte digitale Nomaden sind in der Minderheit“

BDAE: Wie stehen Sie zu dem Phänomen der Influencer?

Enskat: Für mich sind viele der jungen Reisenden, die unterwegs ihr Geld verdienen, keine klassischen digitalen Nomaden, sondern Leute, die ein paar Jahre bezahlten Urlaub machen. Nach meinem Verständnis sind „echte“ digitale Nomaden eher in der Minderheit. Mittlerweile bevorzuge ich es, zumindest bei offiziellen Anlässen, mich als Digital Expat zu bezeichnen. Bei mir steht das Arbeiten im Vordergrund, aber eben aus dem Ausland heraus. Dabei bleiben digitale Expats wie ich aber länger an einem Ort. Ich habe Urlaubszeiten und verreise von meiner Basis aus auch in verschiedene Länder. Viele der selbsternannten Nomaden oder Influencer prahlen damit, dass sie in den letzten zwölf Monaten 60 Länder oder mehr bereist haben. Das kommt mir nicht richtig vor. Ich möchte doch die Gegend, in die ich reise, richtig kennenlernen – etwas von Land und Leuten und der Kultur erfahren. Reisen ist doch kein Wettbewerb!

BDAE: Derzeit leben Sie in Vietnam und Sie waren viel in Südost-Asien unterwegs. Was reizt Sie dort besonders? Könnten Sie sich vorstellen, für immer dort zu bleiben?

Enskat: Ich denke momentan viel über meine Zukunft nach und könnte mir vorstellen, zwei Länder als Heimatbasis zu haben. Vietnam gefällt mir sehr gut, aber ich möchte nicht nur hier leben. Ich kann mir vorstellen, auch mal drei Monate in Malaysia zu leben oder wieder in Thailand. Man ist zwar ein Expat, aber nicht zwangsläufig an ein Land gebunden. Deutschland kommt für mich jedenfalls nicht als Homebase in Frage.

BDAE: Wie würden Sie vor diesem Hintergrund am ehesten Ihre kulturelle Identität beschreiben? Gibt es typisch deutsche Eigenschaften? Was bedeutet Heimat für Sie?

Enskat: Wenn mich jemand im Ausland fragt, woher ich komme, antworte ich meistens, ich komme aus Namibia. Dass ich Deutscher bin, sage ich selten sofort, denn bei den meisten Menschen fallen dann Schotten runter und es läuft ein Film voller Vorurteile ab: die Weltkriege, Nazis, Euro und Merkel. Es ist ein gewisses Stigma. Nirgendwo ist der Deutsche deutscher als im Ausland. Das Gleiche gilt aber auch für jede andere Nation. In der Fremde pflegen die Leute ihre eigene Kultur mehr als im Heimatland. Das ist ein Phänomen, dass ich bisher in jedem Land erlebt habe.

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© Robert Enskat

„Mir wurden gewisse deutsche Werte eingepflanzt“

Die Menschen können schwer zuordnen, woher ich eigentlich komme. Je nach Tageszeit und Kontext spreche ich mal mit einem amerikanischen, mal mit südafrikanischem oder mit schottischem Akzent. Selbst Engländer sind manchmal verwirrt und fragen, wo ich eigentlich herkomme.

Wenn ich mich beschreiben sollte, würde ich es mit Karl Marx halten: Ich bin das Produkt meiner Sozialisation. Natürlich sind mir deutsche Werte und Prinzipien eingepflanzt worden. Der Arbeitsethos beispielsweise und meine Integrität, die Pünktlichkeit und Zuverlässigkeit. Ich stehe grundsätzlich zu meinem Wort. Ich liebe auch hessische Frikadellen mit grüner Frankfurter Soße, die habe ich mir erst neulich wieder selbst zubereitet, um etwas Heimatgefühl zu spüren. Natürlich nicht mit den original sieben Kräutern, kommt dem aber ganz gut nahe. Auch schaue ich immer noch regelmäßig Tagesthemen auf dem Laptop. Der Western-Schauspieler Lee Marvin hat mal ein Lied gesungen –  „Wandring‘ Star“ – in dem es sinngemäß heißt, »Heimat gibt es, damit du Wurzeln hast und davon träumen kannst, dorthin zurückzukehren, was jedoch, mit etwas Glück, niemals passieren wird.« Es ist gut zu wissen, dass man eine Heimat hat, aber eben auch gut, wenn man nicht zwingend dorthin zurückmuss.

Ich habe schon das Bedürfnis, sesshaft zu werden und ich bin tatsächlich noch auf der Suche nach diesem einen Ort. Außerdem habe ich noch längst nicht alles von der Welt gesehen, ich war zum Beispiel noch nie in Südamerika.

Über Robert Enskat:

Robert Enskat war Referent für Hochschulmarketing bei der F.A.Z., arbeitete als Texter und Creative Director, als Dozent und Seminarleiter, als Creative Planner oder Director Creative Development in so gut wie jeder Agentur. Und das seit über 20 Jahren.

Seit ein paar Jahren ist er als Freelancer unterwegs, im wahrsten Sinne des Wortes, nämlich zuletzt hauptsächlich in Südost-Asien. Von dort aus arbeitet er für viele Agenturen und Unternehmen in Europa und ist nebenbei als Reisejournalist tätig. Zu seinen Aufgaben zählten und zählen Typologieerstellung, Creative Briefs entwickeln, diese in konkrete Konzepte umsetzen und generell als Creative Consultant mit seiner Erfahrung, seinem Wissen und seiner Meinung zu beraten.

Web: https://www.enskat.works/

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In seiner Kolumne „Rob ’n‘ Roll around the World” des Online-Magazins t3n schreibt er regelmäßig über Mobilität im Alltag, ortsunabhängiges Arbeiten und digitale Nomaden. Dort beschreibt er beispielsweise in dem Beitrag „Das kann wehtun: Krankenversicherung für digitale Nomaden“ ausführlich von seiner Erfahrung mit seiner Auslandskrankenversicherung nach einem schweren Unfall und fasst zusammen, worauf Expats und digitale Nomaden beim Abschluss ihrer Gesundheitsabsicherung fürs Ausland achten sollten.