Die UNO-Flüchtlingshilfe ist der deutsche Partner des Flüchtlingshilfenetzwerks der Vereinten Nationen (UNHCR). Er unterstützt weltweit lebensrettende Nothilfemaßnahmen, leistet Informations- und Aufklärungsarbeit zur Flüchtlingssituation und unterstützt Projekte für Geflüchtete in Deutschland. Im Interview berichtet der Geschäftsführer der UNO-Flüchtlingshilfe, Peter Ruhenstroth-Bauer, von der aktuellen Flüchtlingslage, von Menschen und ihren Schicksalen und vom großen Engagement der Zivilgesellschaft.
BDAE: Herr Ruhenstroth-Bauer, wie dramatisch ist die derzeitige Flüchtlingssituation?
Ruhenstroth-Bauer: Sehr dramatisch. Die Zahlen sind erschreckend. Über 70 Millionen Menschen sind weltweit auf der Flucht. Alle zwei Sekunden wird ein Mensch vertrieben, 37.000 Menschen sind es pro Tag. Jeder zweite davon ist ein Kind. Die Menschen fliehen, weil sie Schutz suchen. Ihre krisengeschüttelten Heimatländer können ihnen keine Sicherheit mehr bieten. Die meisten fliehen aus Syrien (6,7 Millionen), Afghanistan (2,7 Millionen), Südsudan (2,3 Millionen), Myanmar (1,1 Millionen) und Somalia (0,9 Millionen). Das sind die derzeitigen Brandherde.
BDAE: Wohin fliehen die Menschen?
Ruhenstroth-Bauer: 80 Prozent der Menschen auf der Flucht suchen Schutz in ihren Nachbarländern. Sie wollen nicht weit weg, in der Hoffnung, möglichst bald in ihre Heimat zurückkehren zu können. Länder, die sehr viele Flüchtlinge aufnehmen sind zum Beispiel Bangladesch, wo mehr als eine Million aus Myanmar vertriebene Rohingya leben, Jordanien, Pakistan oder Uganda. Wie Sie sehen sind das alles Länder, die selber nicht von großem Wohlstand geprägt sind. Für diese Länder ist es eine enorme Herausforderung, mit der Situation umzugehen und Lösungen zu finden. In Europa haben von den über 70 Millionen Flüchtlingen 2,8 Millionen Menschen Schutz gefunden. Eine verhältnismäßig kleine Zahl.
BDAE: Wie gehen die Nachbarländer mit der großen Belastung um?
Ruhenstroth-Bauer: Ich war im Frühjahr in Jordanien und bin sehr beeindruckt was das Land und die Menschen dort leisten. Das Engagement der Zivilgesellschaft ist enorm. Und das unterstützt auch wiederum unsere Arbeit. Im größten Registrierungscenter in der Hauptstadt Amman melden sich im Durchschnitt täglich 4.000 geflüchtete Menschen. Es gibt auch zwei große Flüchtlingscamps in Jordanien, in denen jeweils um die 40.000 Menschen leben. Der Großteil der Flüchtlinge lebt jedoch nicht in den Camps, sondern in Wohnungen, die von der Regierung bereitgestellt werden. Flüchtlingen stehen auch Bargeldzuschüsse zur Verfügung, die an Bankautomaten abgehoben werden können. Die Abhebung funktioniert über eine Augen-Iris-Erkennung. Mit dem Geld können Einkäufe getätigt werden, Besorgungen für die Familie oder die Wohnung gemacht werden. Das alles schafft ein Gefühl der Selbständigkeit. Man sitzt nicht nur da und wartet. Es schafft ein Stück Würde.
BDAE: Haben sie auf ihrer Reise mit Flüchtlingen sprechen können?
Ruhenstroth-Bauer: Ich hatte viele Gespräche und habe viel über einzelne Lebensgeschichten erfahren. Eine Begegnung ist mir besonders nahe gegangen. Ein syrischer Familienvater war mit seinen 3 Töchtern und einem Sohn nach Jordanien geflohen und sie leben nun in einer Wohnung in Amman. Als ich ihn besuchte, berichtete er von seinem Neffen, mit dem er gerade telefoniert hatte. Während er erzählte, liefen ihm die Tränen über die Wangen. Sein 7-jähriger Sohn nahm seine Hand, um ihn zu beruhigen. Es stellte sich heraus, dass der Neffe des Vaters in Syrien gefangen genommen wurde und für zwei Jahre ins Gefängnis musste. Der Grund der Festnahme: Die Telefonate mit dem Onkel in Jordanien.
BDAE: Wie kann man sich die Flüchtlingshilfe der Zivilbevölkerung in Jordanien vorstellen?
Ruhenstroth-Bauer: Die Menschen in Jordanien organisieren zahlreiche Treffen, Gruppenaktivitäten und Veranstaltungen, um die Flüchtlinge zu integrieren und zu unterstützen. Das fördert das soziale Miteinander und die Sozialisierung. Viele Ehrenamtliche besuchen die Familien in ihren Wohnungen und schauen nach dem Rechten. Wer Hilfe braucht oder Fragen hat kann sich auf unbürokratischem Weg an viele Hilfsgruppen wenden.
In den Camps finden regelmäßig Markttage statt, an denen von Lebensmitteln bis zum Kunsthandwerk verschiedenste Dinge verkauft werden. Als Regel wurde festgelegt, dass 50 Prozent der Stände von Jordaniern und die anderen 50 Prozent von Geflüchteten betrieben werden. Auch mit solchen Aktionen wird ein positives Gefühl gefördert, dazu zu gehören.
BDAE: Wie schätzen Sie die Situation in Europa ein?
Ruhenstroth-Bauer: Wie gesagt konnten in Europa 2,8 Millionen Menschen auf der Flucht Schutz finden. Es wird manchmal der Eindruck erweckt, dass diese Zahl besorgniserregend für die europäischen Länder und Kulturen ist. Auch hier sehen wir von der UN-Flüchtlingshilfe unsere Aufgabe darin, Aufklärungsarbeit zu leisten und korrekte Zahlen und Fakten zu präsentieren. Wir wollen außerdem verdeutlichen, dass hinter jedem Geflüchteten ein Mensch mit einem persönlichen Schicksal steckt. Das darf man nicht vergessen.
BDAE: Die deutsche Willkommenskultur von 2015 existiert heute so nicht mehr, oder?
Ruhenstroth-Bauer: Sie ist vielleicht von den Titelseiten der Medien verschwunden. Sie glauben aber gar nicht wie viele Menschen in Deutschland sich jeden Tag für Geflüchtete engagieren. Es gibt unzählige Initiativen und Gruppen, die in verschiedenen Bereichen unterstützen und helfen. Das ist sehr beeindruckend. Wir fördern momentan 80 dieser Projekte mit 1,5 Millionen Euro an Spendengeldern.
Eine Gruppe von Juristen berät beispielsweise ehrenamtlich Flüchtlinge in Rechtsangelegenheiten, oder eine Gruppe von Ärzten organisiert psychologische Beratungen für Traumatisierte. Wiederum eine andere Initiative hat sich zur Aufgabe gemacht, junge Geflüchtete bei der Integration zu helfen und sie zu begleiten etwa bei der Wohnungssuche oder Bewerbungsgesprächen.
BDAE: Die Anzahl der Flüchtlinge über die Mittelmeerroute ist zuletzt zurückgegangen. Wie sehen Sie die derzeitige Situation?
Ruhenstroth-Bauer: Die Menschen flüchten, weil sie überleben wollen. Zäune und Meere halten nicht davor ab, nach Schutz und Sicherheit zu suchen. Immer noch ertrinken im Durchschnitt sechs Menschen täglich bei der Flucht übers Mittelmeer. Es bleibt die tödlichste Seeroute der Welt. Die Lage ist also weiterhin dramatisch. Nachdem die EU die Sophia-Rettungsmission vor der libyschen Küste im März 2019 eingestellt hat, haben sich Rettungsaktionen auf private Initiativen hin verlagert. Wie das jüngste Beispiel der Organisation Sea-Watch und die vorübergehende Inhaftierung der Kapitänin Carola Rackete gezeigt hat, werden diese Initiativen jedoch kriminalisiert, obwohl es doch eine Verpflichtung ist, Menschen zu retten.
BDAE: Die Politik vieler Staaten ist mittlerweile auf Abschottung ausgerichtet. Kann das funktionieren?
Ruhenstroth-Bauer: Die Politik scheint sich vermehrt einer aufkommenden Panikmache anzupassen. Sie sucht dabei nach schnellen und einfachen Lösungen. Das ist im Moment vielerorts die Abschottung. Für unsere Arbeit ist das sehr betrüblich und manchmal auch desillusionierend. Da müssen wir unbedingt dagegenhalten. Wenn man nämlich auf die Fakten achtet, gibt es keinen Grund zur Panik. Vielmehr sollten die Zahlen auf die Schicksale von Menschen aufmerksam machen und Mitgefühl hervorrufen.
Allerdings wird in vielen Ländern auch versucht, Lösungen für die Flüchtlingskrise zu suchen. Die UN-Mitgliedssaaten haben sich auf eine Zusammenarbeit verständigt, um Länder zu unterstützen und zu entlasten, die eine große Anzahl an Geflüchteten aufgenommen haben. Auch will man Lösungen finden, um die Bedingungen in den Heimatländern von Geflüchteten zu verbessern. Ende des Jahres findet zum ersten Mal das Global Refugee Forum unter der Federführung des UNHCR in Genf statt. Hier sollen die Punkte der Zusammenarbeit weiter diskutiert und gute Praxisbeispiele vorgestellt und vorangebracht werden. Das Ziel ist ein abgestimmter, wirksamer und nachhaltiger Aktionsplan für die Bewältigung der Flüchtlingsbewegung.
BDAE: Eine weitere Unterstützung für Flüchtlinge bietet die Deutsche Akademische Flüchtlingsinitiative Albert Einstein (DAFI). Was beinhaltet diese Initiative?
Ruhenstroth-Bauer: DAFI ist ein Stipendienprogramm, das Flüchtlingen die Möglichkeit bietet, in ihrem Aufnahmeland einen Bachelor-Abschluss zu absolvieren. Mit Unterstützung der deutschen Regierung und privaten Geldgebern hat das Programm bisher über 15.000 junge Flüchtlinge gefördert. Davon sind 41 Prozent Frauen.
Eine akademische Bildung verbessert die Chancen von Flüchtlingen und ihren Familien, ein selbständiges Leben führen zu können. Nur ein Prozent der Flüchtlinge hat Zugang zu tertiärer Bildung, wie zum Beispiel einem Universitätsstudium. Im Vergleich dazu liegt der Anteil der Menschen weltweit bei 36 Prozent. Hier spielen Initiativen wie das DAFI-Programm eine wichtige Vorreiterrolle, weil es Perspektiven schafft.
BDAE: Sind Sie manchmal frustriert und haben das Gefühl der Hilflosigkeit?
Ruhenstroth-Bauer: Es gibt Momente da ist man verzweifelt. Wie viele andere Menschen haben auch mich die Nachrichten von ertrunkenen Menschen schockiert. Das Foto des toten 2-jährigen Alan Kurdi, angespült am Strand der türkischen Mittelmeerküste, lässt einen nicht mehr los und macht tieftraurig. Ebenso das Schicksal des 25-jährigen Óscar Alberto Martínez Ramírez, der mit seiner 2-jährigen Tochter Valeria auf dem Weg von Mexiko nach Texas im Grenzfluss Rio Grande ertrank. So etwas ist schwer auszuhalten.
Es rüttelt aber auch auf und setzt Energie frei, dieses Elend zu beenden. Mir machen auch die vielen Menschen Mut, die so viel Einsatz und Engagement zeigen. Und manchmal gibt es auch positive Geschichten, die zeigen, dass man nicht müde werden darf. Dass der Einsatz und die Spenden sich lohnen und man etwas bewirken kann.
In Jordanien habe ich eine beeindruckende Frau kennengelernt. Sie war Apothekerin in Damaskus und musste wie viele ihrer Landsleute fliehen. Nun leitet sie das Gesundheitszentrum in einem der Flüchtlingscamps. Sie koordiniert medizinische Behandlungen vom Schnupfen über Traumabehandlung bis hin zur OP für circa 40.000 Campbewohner.
BDAE: Wie sehen Sie die Entwicklung der Flüchtlingskrise und Ihrer Arbeit?
Ruhenstroth-Bauer: Die Flüchtlingsströme werden weiter anhalten und auch unsere Arbeit wird weiter zunehmen. 2018 haben wir den UNHCR mit 23 Millionen Euro Spendengelder unterstützen und zahlreiche Projekte fördern können. Unser Ziel bei der UN-Flüchtlingshilfe ist es, dass jeder Bürger in Deutschland einen Euro pro Jahr für die Flüchtlingshilfe spendet. Davon sind wir im Moment leider noch weit entfernt. Aber jeder kann uns unterstützen.
Mehr Informationen unter: www.uno-fluechtlingshilfe.de/