Sozialversicherungsschutz von Grenzpendlern: Nur begrenzt versichert?
Grenzgänger sind weder formal entsandte Mitarbeiter noch klassische lokale Angestellte. Die Absicherung dieser Gruppe einschließlich ihrer Angehörigen kann Personaler buchstäblich an ihre Grenzen bringen.
Mit Pauline L. hatte ein deutscher Hersteller für Hygieneprodukte in der Gastronomie und Hotellerie eine erfahrene Leiterin für den Vertrieb Innendienst gefunden, die es innerhalb weniger Monate schaffte, den Umsatz in der wichtigsten Produktsparte um zehn Prozent zu steigern. Doch es dauerte nicht lange und die Firma verlor die Fachfrau beinahe an die Konkurrenz – und zwar aus reiner Unwissenheit in punkto Sozialversicherungsschutz von Grenzgängern und deren Familienangehörigen. Wie konnte es dazu kommen?
Pauline L. lebte mit ihrem luxemburgischen Ehemann und der gemeinsamen Tochter in Luxemburg und pendelte täglich zu ihrem neuen Arbeitgeber nach Aachen. Damit gehört die Arbeitnehmerin zu den rund 127.000 Grenzpendlern (auch Grenzgänger genannt), die in Deutschland arbeiten, aber im Ausland ihren Lebensmittelpunkt haben. Gemäß dem Europäischen Gemeinschaftsrecht (konkret: EU-Verordnung Nr. 833/2004) bezeichnet der Begriff „Grenzgänger“ jeden Arbeitnehmer, der im Gebiet eines Mitgliedstaats beschäftigt ist und im Gebiet eines anderen Mitgliedstaats wohnt (politisches Kriterium), in das er in der Regel täglich, mindestens aber einmal wöchentlich zurückkehrt (zeitliches Kriterium). Diese Begriffsklärung – die neben dem bedeutenden Aspekt der Fahrt vom Wohnsitz zur Arbeitsstätte über eine Grenze hinweg eben auch die zeitliche Bedingung der täglichen oder wöchentlichen Rückkehr an den Wohnsitz einschließt – gilt jedoch nur für die Bestimmung der Sozialversicherungspflicht des betreffenden Arbeitnehmers in der EU. In steuerrechtlicher Hinsicht gelten wiederum andere Definitionskriterien, die darüber hinaus je nach Grenzgängerstaat voneinander abweichen können.
Pauline L. pendelte so lange problemlos zu ihrem Arbeitgeber nach Aachen, bis ihre Familie eines Tages Post von ihrer luxemburgischen Krankenkasse bekam. In dem Schreiben forderte die Kasse (über die Pauline Ls. Mann und Tochter familienversichert waren) die Vertriebsfachfrau auf, die Kosten für die chronische Asthmaerkrankung der Tochter privat zu begleichen. Der ehemaliger Arbeitgeber hatte die sie bei der luxemburgischen Kasse, wo sie freiwillig versichert war, abgemeldet und ihr neuer Arbeitgeber bei einer deutschen Kasse angemeldet. Soweit so richtig, denn für Grenzgänger gilt, dass diese nicht im Wohnsitzstaat, sondern in demjenigen Land sozialversicherungspflichtig sind, in dem sie einer Tätigkeit nachgehen.
Pauline L. beglich die Arztrechnungen über die Behandlung der Asthmaerkrankung ihrer Tochter zunächst privat und reichte diese im Anschluss bei der Personalabteilung mit der Bitte um Rückzahlung ein. Dort reagierte man jedoch mit großer Verwunderung auf die Rechnungen und lehnte deren Begleichung ab. Inwieweit die Familie der Mitarbeiterin abgesichert ist, sei nicht Sache des Arbeitgebers, argumentierten die Verantwortlichen ihr gegenüber. Damit Kind und Ehemann abgesichert sind, müssten sie sich eben selbst in Luxemburg bei einer lokalen gesetzlichen Krankenversicherung anmelden, hieß es weiter. Für die erfolgreiche Vertriebsmitarbeiterin erschien dies nicht akzeptabel, immerhin waren ihre Angehörigen stets bei ihr familienversichert gewesen; eine zusätzliche Versicherung würde zu einer höheren Kostenbelastung führen, die so nicht im Familienbudget einkalkuliert war. Als Pauline L. die Personalabteilung bat, den Sachverhalt noch einmal von einem Experten prüfen zu lassen und erneut um eine Erstattung der Behandlungskosten für ihre Tochter bat, zeigte sich diese weiterhin unkooperativ, so dass es zu einer erneuten Auseinandersetzung kam.
Besondere Vorschriften für Familienangehörige von Grenzgängern
Völlig genervt und von ihrem Arbeitgeber enttäuscht, schaltete die erfolgreiche Vertrieblerin schließlich nicht nur einen juristischen Berater ein, sondern rief auch ihren Headhunter an, der sich nach einem neuen Arbeitgeber für sie umschauen sollte. Ihrer Vorstellung von Fürsorgepflicht und Mitarbeiterbindung konnte das Aachener Unternehmen nach dieser Sache nicht mehr gerecht werden. Tatsächlich ergab die Prüfung des Sozialversicherungsexperten, dass die Familie sich sehr wohl weiterhin in Luxemburg würde behandeln lassen dürfen und dass sie dafür keineswegs privat aufkommen müssten. Grundlage dafür ist Artikel 17 Verordnung (EG) Nr. 883/2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit. Demnach gelten für Familienangehörige von Grenzgängern besondere Vorschriften hinsichtlich der Versicherbarkeit im Wohnsitzstaat, wenn ein anderer Mitgliedsstaat zuständig für die soziale Sicherheit ist. Konkret heißt es im Gesetzestext: „Ein Versicherter oder seine Familienangehörigen, die in einem anderen als dem zuständigen Mitgliedstaat wohnen, erhalten in dem Wohnmitgliedstaat Sachleistungen, die vom Träger des Wohnorts nach den für ihn geltenden Rechtsvorschriften für Rechnung des zuständigen Trägers erbracht werden, als ob sie nach diesen Rechtsvorschriften versichert wären.“
Damit Ls. Ehemann und Tochter diese Sachleistungen (dazu gehören zum Beispiel Kosten für Arztbesuche, Behandlung, Medikamente, Rehabilitationen etc.) in Anspruch nehmen können, muss die Familienmutter jeweils für beide bei ihrer Krankenkasse das Formular S1 beantragen, welches bei der luxemburgischen Krankenkasse vorzulegen ist – also bei Ls. Vorheriger Kasse, bei der sie von ihrem alten Arbeitgeber zu früh abgemeldet wurde.
Die deutsche Kasse muss Teil A des S1 Formulars ausfüllen und anschließend L. aushändigen. Die bisherige Krankenkasse in Luxemburg füllt Teil B aus und sendet es der zuständigen Krankenkasse in Deutschland zurück. Ls. Ehemann erhält die Krankenversicherungskarten für ihn und die Tochter von der luxemburgischen Krankenkasse. Somit sind nun auch die Familienangehörigen versichert und können jederzeit in Luxemburg zum Arzt gehen sowie sich bei Notfällen auch in Deutschland behandeln lassen. Anders als Tochter und Ehemann hat die Arbeitnehmerin Anspruch auf umfassende Gesundheitsleistungen sowohl in Deutschland als auch in Luxemburg und gilt damit als privilegiert. Sie erhält eine Krankenversichertenkarte, auf welcher der Grenzgängerstatus vermerkt ist. Als Träger mit einem Betreuungsauftrag rechnet die luxemburgische Krankenkasse die Behandlungskosten der Familie L. dann stets mit dem deutschen Krankenversicherungsträger ab.
Änderungen in den Verhältnissen, wie zum Beispiel durch Umzug in ein anderes Land, müssten Pauline L. und ihre Familie übrigens den Trägern mitteilen. Voraussetzung für die Anwendbarkeit des Vordrucks S1 ist grundsätzlich, dass die Familienangehörigen nicht selbst im Herkunftsland versichert sind – beispielsweise durch eine selbstständige oder abhängige Erwerbstätigkeit beziehungsweise im Kontext einer anderen Konstellation. Da Pauline L. und ihr luxemburgische Ehemann damals entschieden hatten, dass dieser für Kind und Haushalt sorgen würde, traf diese Einschränkung also nicht zu.
Übrigens gibt es weitere Besonderheiten beim Krankenschutz von Grenzgängern und deren Angehörigen: Würde Ls. Familie beispielsweise in Deutschland leben und die Vertrieblerin als Grenzgängerin in Dänemark arbeiten, würden Ehemann und Tochter nur die Kosten für Notfallbehandlungen erstattet bekommen. Die Asthmaerkrankung der Tochter als chronisches Leiden wäre in einem solchen Fall nicht pauschal abgedeckt. Stattdessen müsste die deutsche Krankenkasse sich jedes Mal mit der dänischen Kasse in Verbindung setzen und diese bitten, die Behandlung in Dänemark zu genehmigen und die Kosten hierfür unmittelbar selbst zu übernehmen. Das EU-Recht sieht nämlich für einige Länder bei Grenzgängern einschränkende Ausnahmen vor.
Noch viel Unkenntnis beim Thema Grenzgänger in deutschen Unternehmen
Über die Möglichkeit des S1-Formulars hätte die Personalabteilung Pauline L. lediglich in Kenntnis setzen und ihr dringend raten müssen, dieses für sich und ihre Familienangehörigen zu beantragen. Auf diese Weise hätte viel Missstimmung zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmerin vermieden werden können.
Für das Aachener Unternehmen war Pauline Ls. Situation neu und es nahm schließlich dankbar die Expertise des Sozialversicherungsexperten an. Zudem entschuldigten sich die Verantwortlichen bei der wertvollen Mitarbeiterin und die Firma übernahm zudem die Rechtsberatungskosten. Wenngleich das anfängliche Verhalten der Personalverantwortlichen gegenüber Pauline L. etwas irritierend gewesen ist, als diese das Thema Gesundheitskosten ihrer Familienangehörigen ansprach, so muss man einräumen, dass es durchaus nachvollziehbar war. So wie dem Aachener Hygieneartikelhersteller geht es vielen Unternehmen. Sogenannte Grenzgängerbeschäftigungen finden wesentlich seltener statt als beispielsweise Auslandsentsendungen, deshalb mangelt es zum einen an praktischer Erfahrung und zum anderen auch an entsprechenden Fachpublikationen. Weil sich diese Form der Beschäftigung in den letzten 20 Jahren jedoch deutlich erhöht hat, sollten insbesondere Unternehmen in Grenzregionen (zum Beispiel zu Dänemark, Polen oder Österreich) intensiv mit diesem Feld auseinandersetzen, um nicht wertvolle Mitarbeiter zu „verprellen“.
Arbeitslosenversicherung bei „echten“ und „unechten“ Grenzgängern
Geht es um die Zahlung von Arbeitslosengeld gibt es bei so genannten „echten“ und „unechten“ Grenzgängern eine Besonderheit im Vergleich zu deutschen Erwerbstätigen, die sowohl im Ausland leben und arbeiten und somit keinerlei Grenzgängerstatus haben. Obwohl beide Gruppen („echte“ und „unechte“ Grenzgänger) in der Regel im Tätigkeitsstaat sozialversichert sind, erhalten sie stets Arbeitslosengeld von Deutschland.
Als echte Grenzgänger werden (wie auch in diesem Beitrag Pauline L.) Erwerbstätige bezeichnet, die ihren Wohnsitz oder ständigen Aufenthalt in Deutschland haben und ihre Beschäftigung aber in einem anderen EU- oder EWR-Staat ausüben und für gewöhnlich mindestens einmal pro Woche an ihren deutschen Wohnsitz zurückkehren. Sie sind für gewöhnlich im Beschäftigungsstaat sozialversichert und erhalten auch von dort Sozialleistungen. Das gilt aber nicht für das Arbeitslosengeld. Im Falle der Arbeitslosigkeit erhalten sie diese Geldleistung aus Deutschland (Wohnsitzgrundsatz).
„Unechte“ Grenzgänger arbeiten im Ausland und behalten ihren Lebensmittelpunkt beziehungsweise Wohnsitz komplett in Deutschland bei und überqueren nicht täglich die Grenze ins Ausland. Auch sie haben im Falle der Arbeitslosigkeit Anspruch auf Arbeitslosengeld bei der deutschen Agentur für Arbeit, auch wenn sie sonst der Sozialversicherungspflicht des ausländischen Tätigkeitsstaats unterstehen.
Bei deutschen Erwerbstätigen im Ausland ohne irgendeinen Grenzgängerstatus muss, um Arbeitslosengeld in Deutschland zu erhalten, zwischen der Auslandsbeschäftigung und dem Eintritt der Arbeitslosigkeit und Antragstellung in Deutschland eine versicherungspflichtige Beschäftigung („Zwischenbeschäftigung“) ausgeübt worden sein.
Achtung Verwechslungsgefahr -„Grenzgänger Tätigkeit“ und Tätigkeit in zwei Staaten
Geht es um die Definition von Grenzgängern können unterschiedliche Sachverhalte schnell miteinander vermischt werden. So ist etwa ein Arbeitnehmer, der in zwei Staaten (im Wohnsitzland und im Nachbarland) für einen Arbeitgeber tätig ist und auch dafür regelmäßig die Grenze zum Nachbarland überquert, kein Grenzgänger im sozialversicherungsrechtlichen Sinn.
Für diese Gruppe gilt:
- Wer einen wesentlichen Teil seiner Tätigkeit (mindestens 25 Prozent) im Wohnsitzland ausübt, unterliegt den Rechtsvorschriften dieses Wohnsitzlandes, ist also dort sozialversichert.
- Wer seine Tätigkeit nicht zu einem wesentlichen Teil im Wohnsitzland ausübt, unterliegt den Rechtsvorschriften desjenigen Staates, in dem der Arbeitgeber seinen Geschäftssitz hat.
- Wer bei mehreren Arbeitgebern beschäftigt ist, die ihren Geschäftssitz in verschiedenen Ländern haben, unterliegt den Rechtsvorschriften seines Wohnsitzlandes, auch wenn die Tätigkeit dort nicht zu einem wesentlichen Teil ausgeübt wird.