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Gemeinsam einsam – Mö(n)chtegern für 10 Tage in Sri Lanka

01. Juli 2025
Minuten
Sri Lanka beheimatet die weltweit geringste Schwerkraft – sind seine Einwohner deshalb so schwerelos? Im Antlitz verschwenderischer Naturgewalten, ausgelöst vom Kontinentaldrift und tropischen Klima sowie der Schlachten in der Oberliga wirtschaftlicher Miseren, hätten sie gerade hier allen Grund aufzugeben, doch das Gemüt der heiligen Insel bleibt ungetrübt ausgeglichen. Claudio Sieber schaut sich nach Erklärungen um.
Foto von Claudio Sieber. Ein junger Mann mit heller Haut, langen, braunen Haaren und Bart, der freundlich in die Kamera schaut.

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Sri Lanka – damals und heute

Immergrünes Colombo. Tagwache unter strenger Obhut einer flauschigen Matratze. Bei der Buchung hatte ich vorsorglich die etwaigen Refugien nach diversen Keywords gefiltert; Kingsize-Bett, 24-Stunden-Rezeption, eigenes Badezimmer, WLAN inklusive; alles Luxus, der einem im Hinterland voraussichtlich vorenthalten wird. Also vier Wände mit üppiger Privatsphäre und einem behaglichen Bett, kompetenter Notfall-Service, falls die kleine runde Gästeseife ausgeht oder meine Curry-Teigtaschen via UBER Eats ankommen und jemand die Türe aufmachen muss, und natürlich das obligate Portal zum Cyberspace. Draußen faucht ein pünktlicher Monsunregen, so penetrant, dass nach zwei, drei Augenblicken jeglicher Asphalt untertaucht und Colombos Jünger knöcheltief durch seinen abgewaschenen Schmutz waten.

Fällt das Wortduo "Sri Lanka" (Sanskrit für heilige Insel), zückt jeder andere Stichworte: darunter Augenzeugnisse von planschenden Elefanten, das scheinbar unerreichte Aroma von Ceylon Teeblättern, Tsunami-Nachwehen, Zimtstangen, Südostasiens jüngstes Surf-Shangri La oder das statuierte Exempel chinesischer Schuldenfallen. Mein einziges Andenken an das Land war bis dato der Schulweg, mitten durch herrische Geruchswolken vom Masala meiner tamilischen Nachbarn, die Anfang der 90er vom Bürgerkrieg in die Schweiz geflohen sind. Damals durfte ich mit kindlicher Naivität ignorieren, wie engstirnig ein Eiland, kaum grösser als Helvetia, konsequent vom Schicksal gebeutelt wird. Heute kann ich das nicht mehr.

Im Bluff einer fadenscheinigen Ruhe geht Sri Lanka seit dem skandalösen Wirtschaftsfiasko 2019 weiterhin an Krücken. Traumatisierte Testimonials finden sich an jeder Straßenecke, denn für mehrere Monate erlag der öffentliche Verkehr. Es mangelte an Benzin ebenso wie an Strom, ergo verstummten Wasserpumpen, Kühlkompressoren und jegliche Form modernen Entertainments. Auch Medikamente waren nur schwer zu bekommen. Plötzlich sind Planwagen wieder en vogue und Chirurgen, die mit Stirnlampen operierten. Im Tumult ums tägliche Überleben wandten sich sogar die ikonischen Stelzenfischer an der Südküste wieder den Fischen zu, anstatt um Posen für Dollars zu feilschen. 2022 schuldet der Fiskus seinen Gläubigern 44.686.200.000 Franken, das entspricht einem kulturellen Marktwert von einer Million Ceylon-Elefanten. Falls Tee verpfändbar wäre, müssten sie für insgesamt 30 Jahre die gesamte Ernte der Insel abtreten. Gemunkelt wird, es gehe dank neuer Führung wieder voran, doch die Geisterstimmung in den populären Restaurants Colombos, und das beharrliche Buhlen der Tagelöhner belegen andere Thesen. Wen die Pandemie nicht erledigt hat, darf zur finalen Runde mit den korrupten Ökonomen und Politikern in den Ring. Inzwischen verdreifachte sich der Preis für Baumaterial und Ersatzteile, hingegen sanken die Reallöhne um bis zur Hälfte. Kein Wunder, verwehrt mir der Zahnarzt partout die Quittung, denn die Regierung hat die Mehrwertsteuer soeben auf 18 Prozent verdoppelt. Unübersehbar wird die Umschuldung der Arbeiterklasse aufgebürdet.

Trotz des Dominos an Miseren zieht ein Wind überdimensionaler Leichtigkeit durch das gebeutelte Land. Was ist sein Erfolgsrezept?

Schwarzweißbild einer Gruppe von Menschen in Sri Lanka mit Sonnenschirmen, die Opfergaben tragen.

Von Colombo nach Kandy

Nimmt sich die Eisenbahn den Arterien des Landes an, so bedienen die Lotterbusse all seine Arteriolen, und die Autorikschas die Kapillaren. Während der Schaffner draußen noch fleißig nach potenziellen Rupien fahndet, schwärmen Volksmusik und der sinnliche Duft von Räucherstäbchen durch die Kabine, deren Design zweifelsohne einem Illustrator auf LSD überlassen wurde. Auf dem Armaturenbrett wachen Buddha und Ganesha gemeinsam über das Heil der Passagiere – das Teamwork brauchen wir, denn der Fahrer scheint per Akkordlohn nach Anzahl überholter Verkehrsteilnehmer bezahlt zu werden.

Wie störende Fliegen werden Motorräder, Tuk Tuks und Ochsenkarren weggepflügt. Eilt jemand nicht freiwillig von dannen, wird er so scharf angehupt, bis nur noch der Straßenrand Trost spendet. Derweil schätze ich mich glücklich, darf eingequetscht zwischen zwei unbesorgten Mönchen reisen. Ihre Anwesenheit beruhigt mich, das hat sie schon immer, obwohl klar ist, dass sich unter den Roben nicht unisono weise Geistliche verbergen. Wie gewohnt, begleiten uns streckenweise auch die fliegenden Händler mit ihren Feuerzeugen aus China, gefüllten Pfannenbroten inklusive Mundtüchern aus Druckmakulatur, Betelnuss-Ekstase in mundgerechten Portionen, herzerweichenden Spendezettel und Haargummis. Alles fein säuberlich verpackt, mit rhythmischen Kavi ab USB-Speicher des Busfahrers; gesungene Gedichte, deren Verse vom volksnahen Alltag, von Mystik und von amourösen Abenteuern erzählen. Beschwingt staune ich in die Runde, während mir der Orient seine ungeschönte Exotik vorführt; folgend ein zahnarmes Lächeln von hinten, ein sanfter Kopfwackler von nebenan, und aus der vorderen Sitzreihe reicht mir eine gealterte Schönheitskönigin im Sari einige Erdnüsse nach. Unumstritten, der Oscar für das beste Szenenbild geht dieses Jahr an die Regie aus Sri Lanka.

Ehemaliges Königsreich Kandy

Keine andere City auf Ceylon hat dem britischen Empire so lange die Stirn geboten. Dafür wandeln sie nun mit der Aura einer überlegenen Spezies – vornehmer, robuster, raffinierter, schöner als die im Unterland. Auch sind es sie, die den linken Eckzahn vom legendären Buddha aufbewahren dürfen – eines der heiligsten Reliquien seiner Epoche. Bleiben noch ein paar Minuten, um meine Feeds zu checken, bevor ich in den Wickelrock schlüpfe und auf der Suche nach den Geheimnissen der Glückseligkeit für 10 Tage eine digitale Entschlackung ohne reflexartige Flucht in die Social Networks, ohne Swipes, ohne Memes wie Papst Francis als Rapper, Dopaminkicks und Clickbaits bewältigen muss.

Epilog: Kaschmir, Nordwestindien – vor langer, langer, langer Zeit. Ich verharre den regnerischen Abend nahe eines buddhistischen Klosters, als sich unverhofft ein Mönch zu mir setzt. Wir wälzen diverse Themen. Bevor er abzieht, veranschaulicht er sorgsam; "dein Verstand gleicht einem glühenden Stück Kohle, dass nach einer Kanne Wasser fleht". Daraufhin drückt er mir ein abgegriffenes Buch in die Hand und verschwindet im Regen. Ein halbes Leben lang begleitete mich höchstenfalls ein schlummerndes Talent für Spiritualität. Als zufriedener Agnostiker bange ich weniger um das Leben danach, sehne mich nicht nach einem paradiesischen Shangri-La, einem ehrwürdigen Abgang ins Valhalla, einer Armee von willigen Jungfrauen oder einer Reinkarnation als Mutter Teresa. Das Leben ausbeuten bis zum letzten Atemzug, das will ich! So dachte ich, aber nach wenigen Seiten kann ich die Gebrauchsanweisung für ein lange verschollenes Werkzeug, wiederentdeckt und frisiert, um jegliche Miseren zu meistern, nicht mehr weglegen.

Vor 2.266 Tropensommern, so wird überliefert, hatte der indische Prediger Mahinda den damaligen singhalesischen König Devanampiya Tissa in Mihintale zum Buddhismus konvertiert. Seither floriert die Weltanschauung auf Sri Lanka wie kaum sonstwo. Vorerst wurde Buddhas Lehre von Mahinda und seinen Nachfolgern mündlich verbreitet, bis entschieden wurde, dass kein Möchnsgedächtnis die unzähligen Weisheiten mehr adäquat abspeichern kann. Folglich wurden all die Philosophien, Fabeln und Einsichten ein halbes Jahrtausend nach Siddharta Gautamas Tod in einer Höhle unweit von Mihintale von 500 Mönchen erst rezitiert, dann wahrscheinlich heftigst debattiert, und schlussendlich auf Palmblätter geschrieben – die Wiege der Tipiṭaka. "Vipassanā", ein altes Pali-Wort für "Einsicht", ist ein Teil dieses buddhistischen Almanachs. Historische Überlieferungen deuten darauf hin, dass die morgenländische Meditationstechnik in einem Weltalter etabliert wurde, als wir in Zentraleuropa noch die Töpferei und Verfeinerung unserer Steinwerkzeuge priesen. Sie basiert auf den Naturgesetzen, sowie der mentalen und physikalischen Struktur des Megawunders "Mensch". Knapp 3.500 Jahre später nahm Prinz Siddhārtha die verlorene Technik wieder auf, gab ihr den letzten Schliff und meditierte sich damit zur Erleuchtung. Es war das allerletzte Puzzleteil, das dem Buddha fehlte, um das Ende allen Leidens erlebbar zu machen. Seine originelle Erkenntnis? Die Wurzel aller Probleme sind die Tiefen des eigenen Verstandes. Seither ist Vipassanā sakrosanter Teil des buddhistischen Kanons und somit auf der To-Do-Liste jedes Mönchs. In kurz: das praktikable Werkzeug mache aus Sorgenkindern Bessermenschen, es schärfe den Verstand, steigert die Effizienz, zaubert psychische Krankheiten weg. Ergo eine Kampfansage an die unterbewusst agierenden Dämonen und gleichzeitig ein interessanter Kontrast zu den Lippenbekenntnissen anderer Weltreligionen. Horizonterweiterung schadet grundsätzlich nie, sofern der Preis zahlbar ist. Und der Preis ist happig, denn für die Probe aufs Exempel opfert man Lebenszeit. Genauer, 120 Stunden verteilt auf 10 Tage. Dafür werden Essen und Unterkunft spendiert. Aber der eigentliche Lohn kommt später: innere Waffenruhe.

 Schwarzweißbild einer Kuppel

Zum Status quo

Zu gerne vergessen wir, den Moment zu lieben, flüchten geistig in die Zukunft oder in die Vergangenheit, machen andere für unsere Probleme verantwortlich oder delegieren sie den Göttern und der Pharmaindustrie, wir urteilen, ohne hinzusehen – ohne hinzuhören, reagieren durchwegs konditioniert. Wir wollen ferne Galaxien erkunden, dabei kennen wir uns selbst weniger als die Algorithmen von Google, Meta oder TikTok. Materialismus prägt tägliche Entscheidungen und ist direkt verknüpft mit unserem Selbstwertgefühl. Während wir tagein, tagaus Neidhammeln, aufgeblasenen Egos und Miesmachern begegnen, füllen Bücher über Lebensstrategien und wahres Glück die Bibliotheksregale. Unbestreitbar: die Zeit ist reif für einen neuen moralischen Dresscode. Es ist eine laute Welt da draußen, ob nun in der Schweiz oder auf Sri Lanka, folglich ist die innere kaum leiser. Einem Durchschnittsmenschen zappen täglich 60.000 Gedanken durch den Kopf, 22 Millionen im Jahr. Hirnforscher mahnen, dass davon zirka 80 Prozent recycelte Information sind; schon mal gedacht, evaluiert, bewertet und daher unnötiger Ballast. Was will unser Verstand genau? Die Antwort ist simpel – er will konsequent dem "Jetzt" entfliehen.

Schwarzweißbild aus der U-Bahn in Taipei, Taiwan. Zwei Menschen von der Seite auf einer Rolltreppe blicken auf ihre Smartphones.

Wie es Claudio in dem 10-Tage-Kurs in der Einsamkeit des Mönchdaseins ergangen ist, verrät die Fortsetzung im 2. Teil.

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Cover des Buches Gestrandet im Paradies. Der Autor sitzt auf einem Steg am Meer

Gestrandet im Paradies

Mittlerweile sind zehn Schweizer Sommer vergangen, seit der heute 43-jährige Claudio Sieber seine Heimat und seine Karriere gegen eine ihm völlig fremde Welt eingetauscht hat. Sein Ausbruch entpuppte sich als triumphaler Sieg gegen Routine, Komfort und Spießertum. Im Jahr 2022 blickt er auf Reiserouten zurück, die weit abseits des „Banana-Pancake-Trails” und der von Insta-Fetischisten propagierten Destinationen liegen. Während seiner Vagabundenzeit hat er die Länder nicht abgehakt, sondern ausgekostet. Dabei hat er sich stets auf jeden Fremden eingelassen, von dem er etwas Neues lernen konnte. Während der Pandemie strandet er in Siargao auf den Philippinen.

Sein Buch liest sich wie ein Abenteuerroman und beschreibt seine Reiserouten auf authentische und immersive Weise. Sie ziehen einen in die verborgensten Orte der Welt und lassen einen an herausfordernden und schönen Momenten teilhaben. Das Buch und die Reisen regen dazu an, eigene Grenzen zu überwinden und das Schöne und Wundervolle in den kleinen Dingen zu sehen, die das Leben lebenswert machen. Ergänzt werden die Erlebnisse durch beeindruckende Fotografien, die sowohl Landschaften und Städte als auch die Menschen zeigen, denen Claudio Sieber auf seinem Weg begegnet ist.


Gestrandet im Paradies
Wie ich sechs Jahre als Nomade durch Asien zog und meine Heimat auf einer Tropeninsel fand

Claudio Sieber
Verlag: Tredition
(Nur als Epub erhältlich)
288 Seiten, € 12,99
Erschienen: Oktober 2022

Hier könnt ihr das Buch erwerben.


Claudio Sieber

Der Ostschweizer Claudio Sieber ist ein freiberuflicher Multimedia-Journalist mit Schwerpunkt auf Kultur- und Gesellschaftsthemen in Asien. Wenn er nicht auf Entdeckungstour ist, lebt er auf dem Eiland Siargao in den Philippinen. Mittlerweile sind 10 Bundesfeiertage vergangen, seit der 43-Jährige seine Heimat und Berufskarriere gegen eine andauernde Odyssee durch den märchenfremden Fernen Osten eingetauscht hat. Sein Ausbruch entpuppte sich als triumphaler Sieg gegen Routine, Bequemlichkeit und Spießertum.