Skip to main content
Interview
Privatbestand

"Auswandern ist schon eine große Herausforderung, aber ein Kind verändert einen noch viel mehr"

2015 entschied sich das junge Paar Franziska und Jonas nach Frankreich auszuwandern. Inzwischen sind sie zu viert und fühlen sich angekommen. Wie sie sich auf den Schritt vorbereitet haben und was sie anderen Auswanderern raten, erzählen sie im Interview.

BDAE: Ihr beide seid vor zwei Jahren nach Frankreich ausgewandert. Ihr seid noch keine 30 Jahre alt und habt schon eine solch weitreichende Entscheidung getroffen, was waren die Gründe?

Franziska: Wir haben in Deutschland einfach keine richtige Perspektive mehr gesehen. Ich habe als Krankenschwester im ambulanten Pflegedienst und Jonas als Einzelhandelskaufmann gearbeitet. Unser Alltag war so hektisch und stressig. Irgendwie stand alles unter der Maxime „du musst, du musst, du musst“. Uns wurde bewusst, dass es nicht besser oder anders werden würde, also dachten wir daran, es woanders zu versuchen. Als Risiko haben wir das nie betrachtet, denn unter den gegebenen Umständen hatten wir nichts zu verlieren.

Das mediterrane Wetter in Südfrankreich hat bei den Überlegungen in Sachen Lebensqualität sicher eine Rolle gespielt, war allerdings kein Auswanderungsgrund. Vielmehr haben wir dieses Klima als Bonus betrachtet.

Jonas: Wir sind natürlich nicht planlos an die Auswanderung herangegangen, sondern haben uns schon konstruktive Gedanken gemacht. Dass wir uns für Frankreich entschieden, hat auch damit zu tun, dass meine Eltern schon immer Frankreich-Fans waren und vor ein paar Jahren ebenfalls hierher gezogen sind. Sie können sich mit der französischen Mentalität viel mehr identifizieren als mit der deutschen. Die Menschen hier sind offener gegenüber Neuem und auch Fremden. Das gesamte Lebensgefühl ist viel positiver als in Deutschland. Dort herrscht so eine negative Grundstimmung, wir hatten oft den Eindruck, dass der Durchschnittsdeutsche seine Fehler nie bei sich, sondern immer bei den Umständen sucht. Hier merken wir, dass die Leute sich nicht unterkriegen lassen und selbst aufgrund des Ausnahmezustands durch die gehäuften Terroranschläge nicht den Lebensmut verlieren. Diese von Grund auf positivere Atmosphäre, verbunden mit einer gewissen Gelassenheit, gefällt uns sehr gut. In Deutschland hatte die angespannte Art zu leben und zu arbeiten eher dazu geführt, dass wir etwas von unserem Selbstvertrauen verloren haben.

BDAE: Franziska war zu diesem Zeitpunkt mit eurem ersten Kind schwanger. Für die meisten jungen Paare reicht dies als Abenteuer. Warum hattet ihr beide das Bedürfnis nach mehr „Aufregung“?

Franziska: Als wir Deutschland verließen, war ich gerade im 7. Monat schwanger und voller Energie, da ich im Anfangsstadium gesundheitliche Probleme hatte, bekam ich ein Beschäftigungsverbot und konnte mich ganz auf die Planung der Auswanderung konzentrieren. Uns erschien die Elternzeit auch als sehr günstiger Zeitpunkt, denn wären wir in Frankreich gescheitert, hätten wir wieder nach Hause zurückkommen und ich meinen Job weitermachen können. Außerdem hatten wir etwas Respekt davor, mit einem Säugling auszuwandern.

Es ging dann alles auch recht schnell. Wir erledigten alle Behördengänge, meldeten uns bei unserer Krankenkasse ab und nahmen nur die nötigsten persönlichen Dinge mit nach Frankreich. Es funktioniert ganz gut, eine Zeitlang nur aus dem Koffer zu leben. Außerdem konnten wir bei Jonas‘ Eltern wohnen, das hat vieles leichter gemacht.

„Bei den Franzosen hat man uns eher beglückwünscht“

BDAE: Wie hat denn euer Umfeld auf die Auswanderungspläne reagiert?

Jonas: Sowohl Franziskas als auch mein Arbeitgeber waren nicht besonders begeistert. Außerdem hielten uns viele für verrückt. Man wies uns auf die Risiken, insbesondere den Terror in Frankreich hin und traute uns den Schritt vielleicht auch nicht zu.

Bei den Franzosen waren die Reaktionen ganz anders. Hier hat man uns eher dazu beglückwünscht. Das hängt sicherlich auch damit zusammen, dass weniger in Risikokategorien als in Chancen gedacht wird. Hinzu kam die Aufgeschlossenheit der Menschen. Obwohl sie merkten, dass wir eher zurückhaltend waren, sind sie auf uns zugegangen. Dabei war es von Vorteil, dass wir Deutsche waren, schon allein aus Erleichterung, dass wir keine Niederländer oder Briten sind – diese sind hier in der Gegend nicht ganz so beliebt.

BDAE: Welche anfänglichen Schwierigkeiten hattet ihr zu meistern? Gab es Rückschläge und wenn ja, wie seid ihr damit umgegangen?

Franziska: Rückschläge hatten wir nur, wenn wir mit deutschen Behörden und Krankenkassen in Berührung kamen. Es dauerte Wochen bis wir die erforderlichen Nachweise bekamen, und es gab ein Durcheinander beim Versicherungsschutz. So sagte mir etwa meine Krankenkasse, dass ich eine Auslandskrankenversicherung abschließen müsse, dabei reichte auch ein E-Formular, um mich in Frankreich behandeln lassen zu können. Wegen der Schwangerschaft musste ich ja zum Gynäkologen und mich für die Entbindung in einem Krankenhaus anmelden. Erst zwei Wochen vor der Geburt unserer Tochter kam der Nachweis, dass ich in Deutschland krankenversichert bleiben kann – das hat uns schon die Schweißperlen auf die Stirn getrieben.

Zudem hatten wir Probleme bei der Zahlung des Kindergeldes, das wir als EU-Bürger auch in Frankreich erhalten. Erneut brauchten wir gewisse Nachweise und wussten beispielsweise nicht, dass die französische Stelle dafür zuständig war. Auswandern ist schon eine große Herausforderung, aber ein Kind verändert einen noch viel mehr. Denn da möchte man alles richtig machen und kommt manchmal an seine persönlichen Grenzen. Das war auch der Grund, unseren Blog „Auswandern für Anfänger“ ins Leben zu rufen. Wir hatten das Bedürfnis, unsere Erfahrungen weiterzugeben und anderen zu helfen. Er soll eine kleine Starthilfe sein und die Botschaft aussenden: Ja, auswandern ist manchmal kompliziert, aber dann doch nicht so schwierig, wie es den Anschein hat.

BDAE: Inwieweit unterscheidet sich der Arbeitsalltag vom deutschen?

Jonas: Ich persönlich empfinde den Arbeitsalltag hier als wesentlich leichter. So arbeite ich inzwischen als Freelancer und schreibe Texte. Somit kann ich viel mehr für meine Kinder da sein, als dies beispielsweise mit einem geregelten Job im Anstellungsverhältnis möglich wäre. Außerdem wollten wir es unseren Kindern ermöglichen, frei zu sein, nicht in einem engen Korsett voller Reglements aufzuwachsen. Wir wollten ihnen mehr Freiheit, aber auch ein Grundvertrauen bieten. Hier ist dies eher möglich als etwa in unserer alten Heimat Thüringen. Der Tag beginnt hier später und somit gehen Kinder auch später ins Bett. Sie nehmen deshalb auch an Abendveranstaltungen teil, gehen mit den Eltern ins Restaurant und so weiter. Während wir in der Heimat schief angeguckt würden, interessiert es hier niemanden, wenn die Kinder um 23 Uhr noch nicht im Bett liegen.

mug 2586266 1920 1024x681orange

© https://pixabay.com

BDAE: Stichwort Kinder: Ihr hattet nur rudimentäre Sprachkenntnisse, habt eure Kinder aber in Frankreich bekommen. Wie herausfordernd war das?

Franziska: Meinen ersten Besuch während der Schwangerschaft hatte ich bei einem deutschsprachigen Arzt, das war also einfach. Ich erinnere mich, dass dieser verwundert darüber war, dass wir in Deutschland während der Schwangerschaft so viele Vorsorgeuntersuchungen machen müssen. Für die Geburt und die erste Zeit nach der Entbindung hatte ich eine Hebamme im Krankenhaus, die Englisch sprach. Diese ist in Frankreich standardmäßig als Kinderpflegerin bei den Untersuchungen dabei. Natürlich war dies insbesondere während der Niederkunft nicht so einfach, aber es hat alles geklappt. Die wichtigsten medizinischen Begriffe lernte ich zuvor auch noch auf Französisch. Ein paar Dinge sind hier im Gesundheitswesen anders als in Deutschland, man ist hier sehr auf das Kindeswohl bedacht. So muss man sein Neugeborenes spätestens drei Tage nach der Geburt beim Einwohnermeldeamt registrieren, sonst hat man ganz schnell die Polizei bei sich im Haus und muss außerdem eine Strafgebühr zahlen. Zudem gibt es eine extra staatliche Einrichtung nur für die U-Untersuchungen des Kindes. Die Eltern müssen zudem die Impfstoffe selbst besorgen und zur Untersuchung mitbringen. Es besteht eine Impfflicht und nach der Untersuchung gibt es ein Zertifikat.

Als Vermittlerin zwischen Arzt und Eltern ist bei den wichtigen Untersuchungen immer die Kinderpflegerin dabei. Sie sorgt praktisch für die zwischenmenschliche Ebene, guckt beispielsweise auf die Bindung zwischen Familie und Kind und sorgt für das Wohlbefinden der Mutter. Die Ärzte bleiben wegen eines festgelegten Rotationsprinzips übrigens immer nur maximal ein Jahr am Krankenhaus.

BDAE: Was schätzt ihr an der französischen Mentalität, was nervt euch manchmal?

Jonas: Es ist manchmal etwas anstrengend, dass die Franzosen Unpünktlichkeit als Höflichkeit ansehen – insbesondere wenn man sie zum Essen einlädt. Wir können uns auch nicht so ganz mit der französischen Esskultur anfreunden, vor allem, dass die Mahlzeiten doch recht spät eingenommen werden und dass es so viele Gänge pro Essen gibt. Auch wenn dies die Kommunikation fördert, ist es für uns doch recht gewöhnungsbedürftig. Auch der südliche Fahrstil ist manchmal etwas furchterregend. Und es gibt ständig Feuerwerke, zu allen möglichen Anlässen; paradoxerweise aber nicht zu Silvester.

Manchmal fällt uns auf, dass wir uns „typisch deutsch“ verhalten, wenn wir etwa nachts an der roten Ampel als einzige stehen bleiben und warten bis es grün wird. Die Franzosen tasten sich langsam vor, gucken, ob da auch wirklich kein anderer ist und fahren dann über die rote Ampel. Sie respektieren das Gesetz, hinterfragen aber auch in bestimmten Momenten dessen Sinnhaftigkeit. Wenn sie es also als nicht sinnhaft empfinden, an einer leeren Kreuzung in der Nacht an der roten Ampel zu warten, legen sie die Verkehrsordnung flexibel oder pragmatisch aus. Die Deutschen sind da viel obrigkeitshöriger.

Was wir auch sehr schätzen, ist der größere Familienzusammenhalt. Hier leben oft mehrere Generationen zusammen in einem Haus und unterstützen sich gegenseitig. Das gibt es in Deutschland nicht mehr allzu oft.

Geld sollte kein Antrieb für eine Auswanderung sein

BDAE: Vermisst ihr eure Heimat manchmal? Könnt ihr euch vorstellen, in Frankreich gemeinsam alt zu werden?

Franziska: Vermissen tun wir Deutschland gar nicht. Das wichtigste ist, dass wir uns haben. Vielleicht gehen wir irgendwann nochmal woanders hin, wenn die Kinder groß sind. Wenn die eines Tages sagen sollten, wir wollen nach Guatemala ziehen, warum nicht? Was wir einmal geschafft haben, schaffen wir auch ein zweites Mal.

BDAE: Was sind eure wichtigsten Ratschläge an potenzielle Frankreich-Auswanderer?

Jonas: In erster Linie muss man mutig sein. Es ist nicht notwendig, die Sprache vorab perfekt zu beherrschen und man sollte auch sonst keine zu hohen Ansprüche haben. Am besten lernt sich Französisch durch Interaktion im Alltag. Wer sich hier etwas aufbauen möchte, sollte außerdem nicht erwarten, dass alles von Anfang an perfekt läuft.

Franziska: Auf keinen Fall sollte Geld ein Antrieb für die Auswanderung sein. Viel entscheidender ist der Wunsch nach einem bestimmten Lebensgefühl. Wer bescheiden bleibt, der wird auch zufrieden sein. Zweifel, dass etwas schiefgehen könnte, gehören dazu. Das Gute ist ja, dass man dank der Europäischen Union immer wieder problemlos zurück in die Heimat kann und aufgefangen wird. Egal, wie es ausgeht: Dümmer kann man durch die Erfahrung nicht werden. Sollte man scheitern, dann gilt es nicht zu verzweifeln, sondern daraus zu lernen. Dennoch kann ein gewisses Vertrauen in sich selbst nicht schaden. Uns hat die Auswanderung definitiv mehr Selbstvertrauen gegeben.

Ganz wichtig ist es auch, Dankbarkeit zu empfinden, für die Chancen, die sich einem bieten und die Freundlichkeit der Menschen. Auf gar keinen Fall sollte man auswandern, weil man glaubt, das neue Land ist der Ort, wo Milch und Honig fließen. Auswandern tut man für sich, aus einem inneren Wunsch heraus und weil man sich mit einer bestimmten Art zu leben identifizieren kann.

Über den Blog „Auswandern für Anfänger“

Mit ihrem Blog http://www.auswandern-fuer-anfaenger.de/ wollen Franziska und Jonas Tipps rund um das Thema Neustart in der Fremde geben – für Jung wie Alt. Neben persönlichen Erfahrungsberichten und Gastbeiträgen erfahren die Leser beispielsweise auch, wie man zu Beginn Alltagssituationen wie Einkaufen und Behördengänge meistert. Weitere Themen sind etwa Bescheinigung für die Rente, die Suche nach dem Glück, Elternzeit in der EU, das Gewöhnen an extreme Temperaturen, Steuerfragen und noch vieles mehr.